1 KommentarDer Baum und der Wind - Seniorweb Schweiz
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Der Baum und der Wind

Ich bin was ich bin
Träger von tausend Blättern
Die anderen sind der Wind
Ich der zitternde Baum

Mit diesen Zeilen endet das Gedicht: «Der Baum und der Wind» des Dichters Georges Haldas. Blätter sprossen am Baum über Jahrzehnte. Der Herbst kam, die Blätter fielen im Wind und doch kam der Frühling zurück. Kräftig trug der Stamm das Geäst und die Blüten.

Die anderen sind in mir
Ich bin ihr Diener
Ich sage, was sie mir sagten
Und sie erkennen sich darin

Der Dichter saugt das Leben auf. Er versteht die Menschen und sie verstehen ihn, weil er leise und demütig ausspricht, was auch sie denken und erleben.

Lasst mich das Meer sehen
in völliger Freiheit
Und die Rose einatmen
Dann werde ich nachdenken

Nach reichem Leben ist er ein zitternder Baum geworden. Wie lange noch wird er dem Wind standhalten?

Georges Haldas ist ein Dichter von grosser Sensibilität und einer poetischen Einfühlungsgabe. Er beseelt die Natur und den Menschen. Christoph Ferber wählt aus dem reichen Schatz seines Werkes 70 Gedichte aus, die zu den Quellen des Lebens führen. Sie beleben das Alter mit Erinnerungen und mit dem, was er gerade erlebt. Auch noch als zitternder Baum.

An schönen Sommertagen
Frühmorgens aus dem Haus gehen
Das Licht beschauen
Den Vögeln zuhören
Die grossen Bäume betrachten
die längs der Alleen
dieses öffentlichen Parks
emporragen

Weiter geht der Weg in den Morgen hinaus. Es sind die einfachen Dinge, die ihn bezaubern. Schon immer waren sie bei ihm zu Hause, selbst als das Leben draussen vorbeibrauste. Er ist verheiratet mit einer Frau, die ihn versteht, deren Atem er auch im Nebenzimmer spürt. Und so entsteht von der Muse geschenkt ein weiteres Gedicht. Es heisst schlicht «Da sein»:

Ich liebte diese Sonntage                      Ich liebte dieses Schweigen
Behutsam und still                                dieses Nichts-Sagen
Während du arbeitetest                       Einfach nur da sein    
Schrieb ich langsam                             Die Zeit reifen und den Geist
Im anderen Zimmer                             uns einen lassen.

Christoph Ferber hat die französischen Gedichte einfühlend, der deutschen Diktion folgend, übersetzt. Sie schildern die Realität des Alters und den langsamen Prozess, der hin zur grossen «Abfahrt» führt. In schlichter Sprache besitzen die Gedichte stets einen doppelten Sinn. Das reale Leben findet erinnernd und reifend seine Bedeutung. Im Gedicht «Dämmerung» wird Dämmerung/Crépuscule zur Metapher. Die Metapher spielt der Leserin und dem Leser Gedanken zum Nachdenken zu. Was genau will der Dichter sagen? Diese verspielte Verdoppelung ist, was man Dichtung nennen kann:

Auch bei zitterndem Scheit
und bei flackerndem Feuer
dringt das Licht
in das Zimmer.
wo plötzlich die Sommer
von damals lebend werden. . .

Es dämmert. Es dämmert am Morgen und es dämmert am Abend. Er sieht, wie sich das Feuer des Lebens «in ihrem lieblichen Brand» auflöst. Noch ist es Tag: «Noch ein letztes Scheit / und der Tag geht zu Ende». Haldas verstarb im Oktober 2010

Nehme ich das Buch in die Hand, tut sich mir eine reiche Schatztruhe auf. Ich lese und denke und staune, wie behutsam der Dichter die Leserin und den Leser an die Grenze des Da-Seins führt und ihn durch die Tage begleitet. Ein grosser Dichter erschliesst sich mir in seiner Kunst.

Georges Haldas: Vor der grossen Abfahrt. Avant le grand départ. Übersetzt von Christoph Ferber. Neu im Limmat-Verlag. 2024 erschienen.

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1 Kommentar

  1. Der Mensch ist ein Individuum und so sind auch die Vorbereitungen auf das eigene Altern und den Tod sehr verschieden. Ihnen stehen u.a. die Verse des Dichters Georges Haldas zur Seite. Das Gedicht vom Baum und dem Wind erinnert mich an meine Kindheit. Immer schon liebte ich Bäume und verbrachte oft Stunden mit einem Buch auf der stattlichen Eiche vor unserem Haus.
    In der alltäglichen Bewältigung des nicht aufzuhaltenden Verfalls helfen mir die buddhistischen Ansichten wie: Das Leben und der Tod ist ein Kreislauf und ein Übergang in eine andere Daseinsform. Der Gedanke des Karma, der Wiedergeburt mit Altlasten, ist mir jedoch fremd. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass alles was wir in unserem Leben getan haben und noch tun werden, persönliche Spuren hinterlässt und zum Beispiel in unseren Kindern weiterlebt. Weiter hilft mir die Achtsamkeit und das Sein im Hier und Jetzt, um bewusster geniessen zu können und manchmal wehmütig, loszulassen und mich langsam der Endlichkeit meines Lebens zu stellen. Gerne wäre ich im nächsten Leben ein Baum. Ich wünsche Ihnen auf Ihrem Weg alles Gute.

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