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Was uns erschüttert

Das Collegium Generale der Uni Bern veranstaltet regelmässig Ringvorlesungen zu einem fächerübergreifenden Thema. «Erschütterungen» betreffen den Menschen als einzelnen und ganze Gesellschaften. Ein unleugbar ebenso aktuelles wie universelles Thema.

Wir mögen uns fragen, wann wir zuletzt nicht nur emotional berührt, sondern regelrecht erschüttert waren. War es ein persönlicher Moment, etwas, das uns selbst zugestossen ist, oder ein unerwartetes – und unerwünschtes – Ereignis in der Familie?

Erschütterungen folgen auf Extremereignisse, seien sie vom Wetter verursacht, eine Überschwemmung, ein Erdrutsch, oder seien es Katastrophen wie Erdbeben oder ein Krieg, auf den niemand vorbereitet war. Individuelle oder kollektive Erschütterungen berühren uns nicht nur gefühlsmässig, sondern bis ins tiefste Innere. Es geht darum, dass unsere Lebensgewohnheiten dadurch direkt oder indirekt in Frage gestellt werden oder wir uns fühlen, als würde uns der Boden unter den Füssen wegezogen. Eine schmerzhafte Erfahrung, die zudem oft Angst auslöst.

Das Leitungsteam des Collegium generale hat den Wissenschaftlerinnen und Forschern der verschiedenen Fachbereiche die Frage gestellt, wo von Erschütterungen die Rede ist. Was verbindet psychische Erschütterungen mit den erschütternden Folgen eines Erdbebens? Wie wird der Begriff in den Wissenschaften verwendet? Die Organisation der Vorträge erfordert einen ausgeklügelten Zeitplan, so dass die Abfolge keine Rangliste der Wichtigkeit widerspiegelt.

Wenn eine Erschütterung zu einer Krankheit führt

«Eine Erschütterung», sagt der Psychiater und Philosoph Paul Hoff, «ist kein Fachbegriff der Psychiatrie, sie rüttelt aber am Zentrum des Menschen.» Um die Beziehung zwischen (seelischer) Erschütterung und dem Ausbruch einer psychischen Krankheit zu erfassen, richtet Hoff seinen Blick auf den weiten Bereich, der sich von Lebenskrisen, in die jede Person irgendwann geraten kann, bis zu psychischen Erkrankungen im engeren Sinne hinzieht.

Hoff zitiert dazu einen der einflussreichsten Denker, Karl Jaspers. Dieser hat in diesem Zusammenhang «von der ‹Grenzsituation› als bestimmendem Momentum der conditio humana gesprochen.» Auf Karl Jaspers bezieht sich der Referent mehrmals. – Beide haben sich eingehend mit Philosophie und Psychologie bzw. Psychiatrie beschäftigt. Hoff bezeichnet Jaspers als «den Philosophen, der aufs Ganze geht».

Schliesslich zitiert er Jaspers noch einmal: «Erschütterungen brauchen Schicksalsgenossen.» Ein wichtiger Ausspruch, der andeutet, dass begleitende, stützende Personen bei Erschütterungen eine der wichtigsten Helferinnen bzw. Helfer sind. Hoff illustrierte seine Äusserungen an zwei Fallbeispielen. Es war ihm ausserdem wichtig aufzuzeigen, dass Erschütterungen auch jenseits des individuellen Erlebens vorkommen und sogar das Selbstverständnis von Institutionen und Wissenschaften nachhaltig prägen können.

Paul Hoff selbst war lange prägend für die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich. Seit 2020 ist er Präsident der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften.

Rauch und Feuer (Symbolbild) Foto: Adina Voicu / pixabay.com

Ein Erdbebenexperte aus Italien

Dass Professor Domenico Giardini am Institut für Geophysik der ETH Zürich lehrt und forscht, erstaunt nicht. Ist doch Italien nebst Island in Europa das Land, das sich notgedrungen am intensivsten mit Erdbeben auseinandersetzen muss. Uns allen ist bekannt, dass Erdbeben zu den stärksten Phänomenen unsere Erde gehören. «Sie können fast überall und ohne Vorwarnung auftreten, und ihre Erschütterungen können verheerende Folgen für die menschliche Gesellschaft haben und sogar ihre Geschichte beeinflussen», sagt Giardini.

Sein Fachwissen, das sich auf alle von Erdbeben gefährdeten Gegenden erstreckt, trägt er mit italienischem Charme vor. Er kann Wahrscheinlichkeiten einschätzen, ohne seine Kenntnisse zu überschätzen, er zeigt im Besonderen auf, welche Unterschiede sich ergeben, wenn ein Beben in ländlich geprägten Gegenden eintritt, im Unterschied zu Beben, die grosse Städte erschüttern.

Die Tendenz zur Urbanisierung, sagt Giardini, führe dazu, dass sich das Ausmass der Schäden erhöht. Die Bemühungen, erdbebensichere Gebäude zu erstellen, hält er für wichtig. Die Gefahr, dass Menschen unter den Trümmern sterben, wird dadurch verringert. Aber Erdbeben werden immer eine Katastrophe bleiben.

Können Katastrophen Reformen beschleunigen?

Karin Ingold, Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern, sprach über den Einfluss von Katastrophen und Extremereignissen auf die Politik. Grundsätzlich wird eine Katastrophe als Ereignis definiert, dass ausserhalb der Politik vorkommt, sagt Frau Ingold. Es ist jedoch unvermeidlich, dass die Politik auf Katastrophen reagieren muss, entweder mit ausserordentlichen Massnahmen oder durch politische Entscheidungen, die, wenn möglich, ähnliche Katastrophen zu vermeiden helfen.

Karin Ingold, die in der Einführung als eine der meistzitierten Politikwissenschaftlerinnen der Schweiz bezeichnet wurde, erklärt am Beispiel einer Überschwemmung im Aaretal bei Belp, was Politik leisten kann und was nicht.

Überschwemmung (Symbolbild) Foto: Linda Russ / pixabay.com

Wenn niemand vorbereitet war, ist es schwer, durch politische Massnahmen Verbesserungen durchzusetzen. Wenn aber durch frühere Ereignisse – wie bei dieser Überschwemmung – die entscheidenden Politikerinnen und Experten schon Pläne erarbeitet haben, besteht die Chance, dass die neue Katastrophe zu Lösungen führt. – Im Fall der Aareüberschwemmung war dies der Fall.

Grundsätzlich, erklärt Karin Ingold, führt Betroffenheit zu Aktivität. Dann wird es wichtig, ob eventuelle Verursacher, z.B. beim Chemieunfall in Schweizerhalle, «in die Pflicht» genommen werden und ob sich die Geschädigten, die «Opferseite», gut genug einbringen können. Darin sieht Ingold ein Grundproblem.

Beim «menschengemachten Klimawandel» sind die Probleme derart komplex, dass sich keine klaren, «simplen» Ziele formulieren lassen. Auch der Gegensatz Gewinner – Verlierer funktioniert nicht. Das Klima ist «besitzlos», es gehört «allen». Hinter dieser Anonymität verstecken sich viele. – «Erst wenn sich eine politische Massnahme im Wertesystem der Gesellschaft verankert hat, ist sie dauerhaft und wirkt nachhaltig.»

Die frei zugänglichen und kostenlosen Vorträge der Ringvorlesung des Collegium Generale Uni Bern finden bis 29. Mai 2024 jeweils mittwochs 18:15 Uhr bis 19:45 Uhr statt.
Jeweils einige Tage später sind sie als Podcast auf der Webseite nachhörbar.

Titelbild: Erdbeben Foto: Angelo Giordano / pixabay.com

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