Ich sollte in meinem Alter viel gehen, doch meine Beine verspüren oftmals keine grosse Lust dazu. Früher schwang ich mich heiteren Gemüts auf den Sattel und pedalte die Strasse hoch, die von meiner Haustüre weg bergwärts führt. Meine Beinmuskeln lachten. Von Trägheit keine Spur. Sie warfen mir Bequemlichkeit vor, wenn ich nicht gehen wollte. Schimpfte mein Kopf, ersann er eine List, damit ich das Rad vom Ständer nahm. Er spiegelte mir den Duft von Holunderblüten vor, die an Pfingsten am Weg aufwärts blühen. «Dort», sagte es lebhaft, «bist du immer aus dem Pedal gestiegen und hast deine Nase in die Dolden gesteckt». «Ach ja!», erinnere ich mich, «es ist ja bald Pfingsten». Ähnliche Verlockungen zum Fahren oder Gehen gab es viele.
Nun ist nicht nur mein Gehirn bequem geworden, sondern die Beine beginnen auch lässlich zu sündigen. Der Kopf mahnt, wenn du nicht gehst, ist das nicht bloss eine lässliche Sünde, sondern wird eine schwere werden. Lässlich wäre noch akzeptabel, aber eine schwere war nun doch zuviel. Also musste ich etwas unternehmen, damit ich zu mehr Laufen kam. Ich überlistete mich und benannte das, was ich eh schon tat, Intervalltraining. Fragt mich jemand, ob ich noch gut unterwegs sei, setze ich hoch an: «Ich mache Intervalltraining». Beeindruckt sagt der Fragende: «Das ist super!» Zugleich weiss ich, dass er gerne wüsste, wie dies geschieht. Er muss nicht fragen. Ich erkläre es ihm sofort.
«Ich leiste mir ein GA für die Bahn. Ich laufe also von meinem Haus zum Bus. Auf dem Weg gehe ich über einige Treppen und warte bei der Haltestelle. Bald hält der Bus an und ich sitze auf einen Sitz bis zum Bahnhof, steige aus und gehe auf das Perron, wo mein gewünschter Zug anhält. Dann sitze ich wieder, steige um und wechsle mit Sitzen und Gehen ab, bis ich in Appenzell am Landsgemeindeplatz oder in Basel am Rhein etwas esse».
Ob ich denn allein unterwegs sei. «Nein, nein! Ich fahre immer recht angeregt mit jemandem». «Mit wem?» getraut er mich nicht zu fragen. So sage ich seine Neugier befriedigend: «Ich fahre mit Hannah Arendt». Er stutzt. Ich fische ein Buch aus dem Rucksack und zeige es ihm: «Hannah Arendt. Über das Böse». «Ja, ja», sagt er, es geschieht gerade viel Böses auf der Welt. Und wir reden über den Krieg in der Ukraine und den Überfall der Hamas. «Ah so, ist dein Intervalltraining». Wir springen von der einen Sache zur anderen. Schade, dass er nicht wie ich den gleichen Weg weitergeht. Er sagt noch: «Die Welt ist verrückt geworden!», und eilt davon.
Ich sitze also gemütlich im Schnellzug nach Luzern und lächle dankbar vor mich hin. Ich werde gerade von einer jungen Frau beobachtet, die mein Lächeln offenbar überrascht, denn sie schmunzelt und denkt vielleicht: «Der kann schon lächeln! Der ist alt wie meine Grossmutter. Er har sicher eine gute Zeit hinter sich». «Wir hatten es nicht. Wir mussten uns durchbeissen», denkt es in mir und «ihr Intervalltraining heisst möglicherweise Work-Life-Balance». Mein Berufsleben überwog das private. Werde ich wieder einmal gefragt, ob ich alleine fahre, sage ich vielleicht: «Nein!» Und diesmal zeige ich den Gedichtband «Drehbuch der Träume» von Erwin Messmer.