Udo Rauchfleisch (81), Professor em. an der Universität Basel für Klinische Psychologie und Psychotherapeut, hat soeben ein Buch veröffentlicht mit dem Titel «Einsamkeit. Die Herausforderung unserer Zeit.» Was sind Ursachen, Folgen und Strategien gegen Einsamkeit.
Es geht in diesem Buch nicht um das positive, schöpferische Alleinsein, sondern um die negative, quälende Vereinsamung, um ein subjektives Gefühl, das als leidvoll erfahren wird. Es kann situational auftreten oder sich chronisch über längere Zeit in der eigenen Gefühlswelt einnisten.
Rauchfleisch thematisiert individuelle, zwischenmenschliche, gesellschaftliche und globale Ursachen der Einsamkeit und schlägt konstruktive Umgangsweisen mit diesem unangenehmen Gefühl vor. Denn die Folgen der Einsamkeit können verheerend sein: «Depressionen; Scham- und Schuldgefühle; Leeregefühle, Angst vor Nähe; Angst und Verheimlichungsstress; Suchtentwicklung; Die forcierte Suche nach Kontakten; Suizidalität; Körperliche Erkrankungen; Sozialer Abstieg» (Untertitel des Kapitels «Folgen der Einsamkeit»).
Individuelle Ursachen und Strategien gegen Einsamkeit
Bei Jugendlichen sind Einsamkeitsgefühle verbreitet und nach Udo Rauchfleisch oft auf folgende belastende Faktoren zurückzuführen: Auszug aus dem Elternhaus; Verlust des bisherigen Schutzraumes, etwa der Schule; neue Ausbildungsphase, oft verbunden mit Wohnortswechsel; «allgemeine Verunsicherung angesichts von politischen, ökonomischen und ökologischen Problemen». Im Alter treten belastende Einsamkeitsgefühle ebenfalls oft auf etwa aufgrund des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben und der damit einhergehenden Reduktion von Kontakten oder durch den Tod von nahestehenden Personen.
Armut, Krankheiten, Behinderungen, sexuelle Orientierungen ausserhalb des Mehrheitsgesellschaft wirken in jedem Alter ausgrenzend, erzeugen bei den Betroffenen oft Schuld- oder Schamgefühle und können zu einem schädlichen Rückzug aus der Gemeinschaft und der Gesellschaft führen.
So banal es klingen mag, aber die beste Strategie gegen Einsamkeit ist die Pflege von Kontakten zu Bezugspersonen. Dabei können Personen aus dem Umfeld mit vereinsamenden Personen, die in ihrem Rückzug allenfalls Alkohol- oder Internetsucht entwickeln, in Kontakt treten oder einsame Menschen können von sich aus mit anderen Personen in Vereinen oder behördlichen Anlaufstellen oder in der Nachbarschaft oder beim Einkaufen Kontakt aufnehmen. Aber Einsamkeit kann tief sitzen und der Kontakt zu andern kann Einsamkeitsgefühle sogar verstärken. Auch unter anderen kann man sich sehr einsam fühlen, wenn Liebe, Wertschätzung, Verständnis für das Anderssein, die Sorge füreinander und die Freude am Zusammensein und am gemeinsamen Wirken und Werken fehlen.
Zwischenmenschliche und gesellschaftliche Ursachen und Strategien
Einsamkeitsgefühle in Partnerschaften, am Arbeitsplatz, im Kollegenkreis treten umso mehr auf, als der Nutzen der Beziehung im Vordergrund steht. Schnell kann man sich ausgenutzt und instrumentalisiert und nicht als volle Person mit all seinen Fazetten und Mödeli angenommen fühlen. Wenn man in Beziehungen nicht sein kann, wer man ist und nur wertgeschätzt wird, solange man sich anpasst und seine Funktionen erfüllt, lauert die Angst vor Einsamkeit oder die Scham wegen scheinbarer Nutzlosigkeit oder Anderssein.
Das Diktat aus der Wirtschaft, dass man im Arbeitsprozess zu genügen hat, dass man funktionieren muss, dass Privates nicht gefragt ist, kann ein Gefühl des Scheiterns hervorrufen und zu Burnout, Ausgrenzung und Einsamkeit führen. Ältere, die aus dem Erwerbsleben aussteigen, müssen nicht mehr nach der Pfeife von andern tanzen und haben mehr Zeit für den sorgenden Umgang mit sich selbst, mit andern und mit der Natur. Die liebevolle Sorge um die Kinder, Grosskinder und Nachbarn, das Engagement als Freiwillige in gemeinnützigen Tätigkeiten oder für kommende Generationen sind ein Heilmittel gegen Ausgrenzung und Einsamkeit. Diese Sorgekultur dürfte im Buch noch einen prominenteren Stellenwert haben.
Globale Ursachen und Strategien
Udo Rauchfleisch diskutiert die Covid-19-Pandemie und den Klimawandel als globale Ursachen für sozialen Rückzug oder die schiere Flucht aus Überschwemmungs- oder Verwüstungsgebieten. Seine globale Strategie formuliert er im Schlussabschnitt des Buches so: «In diesem Zusammenhang ist auf die Bedeutung von Demonstrationen hinzuweisen. Viele gesellschaftliche und politische Veränderungen wären nicht zustande gekommen, wenn nicht engagierte Menschen auf die Strasse gegangen wären und öffentlich für oder gegen bestimmte wirtschaftliche, technische und politische Themen und Entwicklungen Stellung bezogen hätten.» Besser als sich frustriert zurückzuziehen oder als Wutbürger die Faust im Sack zu machen ist die gemeinsame Empörung gegen eine kalte, lieblose Welt und das Engagement für ein Wohnquartier und einen Planeten, auf dem sich alle wohl fühlen können.
Prof. Dr. em. Udo Rauchfleisch, Jahrgang 1942, hat an den Universitäten Kiel und Lubumbashi (Kongo) Psychologie studiert, danach eine psychoanalytische Ausbildung in Freiburg i. Br. gemacht und sich 1978 an der Universität Basel habilitiert. Von 1970 bis 1999 arbeitete er als Leitender Psychologe an der psychiatrischen Universitätspoliklinik des Universitätsspitals Basel und war von 1978 bis zu seiner Emeritierung 2007 an der Uni Basel Professor für Klinische Psychologie. Seit 1999 arbeitete er, zunächst neben der Professur, in privater Praxis für Psychotherapie und Beratung. Auch in seinem 82. Lebensjahr ist er weiter in seiner Praxis tätig, publiziert Bücher und Artikel und hält Vorträge. (Foto von der Homepage von Udo Rauchfleisch)
Titelbild: Udo Rauchfleisch an seinem Arbeitsplatz (Foto zVg.)
Buch: Udo Rauchfleisch: Einsamkeit. Die Herausforderung unserer Zeit. Patmos Verlag 2024. ISBN: 978-3-8436-1526-6
Noch ein Buch über die negativen Auswirkungen der Einsamkeit, die unbestritten evident sind. Für mich ist die Einsamkeit des Einzelnen vor allem ein gesellschaftliches Problem. Wo das Streben nach Erfolg, Macht und Geld die wichtigste Priorität hat, wird menschliches, mitfühlendes Handeln und sich um andere kümmern in den Hintergrund gedrängt.
Die Verantwortung für dieses gesellschaftliche Versagen tragen wir alle, aber am meisten diejenigen, die Macht ausüben und Änderungen bewirken können, also Politiker:innen, Wirtschaftsbosse, Gesundheitsverantwortliche, die Behörden und Bürger nahen Institutionen. Sie alle können in ihren Tätigkeitsbereichen durch gezielte Massnahmen Voraussetzungen für ein Klima schaffen, dass niemand in unserer Gesellschaft allein gelassen wird. Die Ideologischen und einengenden Glaubensinstitutionen sollten durch freiwillige, basisdemokratisch geleitete und sinnstiftende Begegnungsorte ergänzt werden. Es kann doch nicht sein, dass wir Menschen, die an unserem System leiden, aussortieren und der Ruf nach noch mehr teuren medizinischen Therapien und Medikamenten immer lauter wird.