Regenwetter ist Lesewetter. Deshalb gehöre ich zu jenen Menschen, denen auch lange Regenperioden nichts anhaben können. Schon als Kind freute ich mich immer über Regenwetter, vor allem im Sommer hörte ich während des Mittagessens stets aufmerksam zu, wenn am Radio der Wetterbericht gesendet wurde. Ausgedehnte Tiefdruckzone war mein Lieblingsausdruck. Wurden anhaltende Niederschläge gemeldet, freute ich mich, aber nur im geheimen. Zeigen durfte ich meine Freude auf keinen Fall, denn für den Vater, einem Bauern mit einem Betrieb der arbeitsintensivsten und mühsamsten Art – neben der Milchwirtschaft baute er verschiedene Getreide, Zuckerrüben, Raps und Gemüse an, darauf komme ich noch zu sprechen – waren solche Meldungen ausgesprochen schlecht und überdies Gift für das Gemüse, für seine Laune und somit für das Familienklima. Für mich aber bedeutete schlechtes Wetter freie Zeit. Bedeutete, mich irgendwo im Haus zu verstecken, ein Buch auf den Knien, eines neben mir und Oskar auf meinem Schoss. Oskar war ein Kater, schwarz wie die Nacht, der im gleichen Jahr wie ich zur Welt gekommen war und erst starb, als ich siebzehn Jahre alt war und nicht mehr zuhause lebte. Mein Lieblingsversteck befand sich auf dem Dachboden, wo mich keine Rufe erreichten. Dort stand ein altes Kanapee, auf das ich eine alte Wolldecke gebreitet hatte und ein paar alte Kopfkissen, aus denen es Federn regnete, wenn man sie aus Versehen unvorsichtig aufschüttete. Auch in der Vorratskammer war ich gerne zum Lesen, auf dem Boden sitzend, an eine Wand angelehnt, aber dorthin konnte ich Oskar nicht mitnehmen, weil die Mutter über den ganzen Raum eine Wäscheleine gespannt hatte, an der Rauchwürste und Speck hingen. Oskar sprang die ganze Zeit hoch in der Hoffnung, einen Happen davon zu erwischen. Er verausgabte sich total, aber seine Sprünge waren erfolglos, so hoch konnte er gar nicht springen, aber er versuchte es immer und immer wieder und gab keine Ruhe.
Heute muss ich mich zum Glück nicht mehr verstecken, wenn ich stundenlang lesen will. Niemand verlangt mehr von mir, Buschbohnen abzulesen in elend langen Reihen oder Essiggurken zu ernten, die man sehr leicht übersehen kann in all dem dichten Pflanzengrün, das überdies leicht stachelig ist und pickst. Übersehene Essiggurken übrigens wachsen binnen zwei Tagen zu riesigen Dingern heran, die wir damals grosszügig im Dorf verteilten, denn an die Konservenfabrik, für die wir sowohl Bohnen wie Essiggurken anbauten, konnten solche Exemplare natürlich nicht mehr verkauft werden. Ich glaube, kein einziger Dorfbewohner kann Gurkensalat mehr sehen, geschweige denn essen. Warum es sich mit dem Lesen anders verhält, warum ich nie genug von Geschichten bekomme und mich daran nie überessen kann, ich weiss es nicht. Gut, Gurken, wohlverstanden, nicht Zucchetti oder die noch lieblicheren Zucchini, sind ja auch langweilig. Was kann man denn aus ihnen anderes zubereiten als Salat? Höchstens noch ein paar Gurkenscheiben aufs Gesicht auflegen als garantiert vegane Schönheitskur. Geschichten hingegen… Klar, lesen ist stets die gleiche Beschäftigung, aber gärtnern, gamen und gehen sind das auch.
Übrigens lese ich stets an einem Tisch. Damit ich Platz habe für Block, Stift und Laptop, um mir Notizen zu machen. Was ich längst nicht immer tue. Aber meine Lieblingstätigkeit sieht dann irgendwie nach Arbeit aus. Viele ältere Menschen wagen es immer noch nicht, sich mitten am Tag hinzusetzen und ausführlich zu lesen. Sie lesen nur abends oder sonntags. Bitte tun Sie es. Setzen Sie sich an Ihren Lieblingsplatz – wo befindet er sich? – und lesen Sie, wann immer Sie wollen von Montag bis Sonntag und bei jedem Wetter. Aber bei Regenwetter ist es am schönsten, und jetzt folgt eine Art Outing: Das Wetter der letzten Tage ist mein absolutes Lieblingswetter. Politisch nicht korrekt, ich weiss, angesichts der Klimakrise und der Überschwemmungen, aber kommt halt von früher. Mein Bohnen-Essiggurkentrauma…
PS: Bei langen Regenperioden mussten wir rein in die Pelerinen, Kapuzen hoch und ran an die Bohnen und Gurken, Regen hin oder her. Nur schon in grauslicher Erinnerung an die pitschnassen Pflanzen, die Regentropfen, die einem schon bald übers Gesicht und über den Rücken liefen und die Schuhe, die quietschten vor Nässe und an deren Sohlen schwere Erdklumpen hafteten, bin auch ich der Ansicht, der Regen könnte nun mal aufhören.
Ich kann es ihnen nachfühlen, wenn man immer aus den spannenden Geschichten herausgerissen wird. Ich hätte früher den ganzen Sonntagnachmittag lesen können. Aber da hiess es schnell einmal: Komm, wir brauchen dich zum Jassen, denn meine Eltern und meine Brüder waren richtige Jassfanatiker und so blieb mir keine andere Wahl.
Es konnte schon passieren, dass ich in der Küche die Milch vergass und diese dann lautlos davonschlich. Aber die Geschichte war doch so spannend!
Heute kann ich es richtig geniessen im Liegestuhl Abenteuer, Lebensbilder oder süsse Liebesromane mitzuerleben.
Danke für ihren interessanten Beitrag