Er sah sich immer als Opfer. Jetzt ist er tatsächlich eines geworden: Donald Trump. Das Attentat ist entsetzlich, unentschuldbar und doch irgendwie typisch USA. Der von Sicherheitskräften erschossene Täter? Ein 20-jähriger aus dem Umfeld des Tatortes in Pennsylvania. Er soll der Republikanischen Partei, der Partei Trumps, angehört haben, soweit der jetzige Kenntnisstand. Vier Präsidenten starben bei Attentaten, zwei überlebten: Reagan und Trump (als Ex-Präsident und Kandidat). Ich war 19, als John F. Kennedy, mein grosses Vorbild, im offenen Wagen erschossen wurde, in den Armen seiner Frau Jacqueline Kennedy starb. Die Trauer war riesig. Hoffungsvoll schauten wir damals nach Amerika, ein junger, dynamischer, ein 46- jähriger Mann war angetreten, um der Sowjetunion die Stirn zu bieten, den Westen in eine glänzende Zukunft zu führen.
Welche Diskrepanz zu heute! Alle wissen es. Nur einer ist überzeugt, dass er nicht zu alt ist: Joe Biden. Nur der liebe Gott könne ihn davon abhalten, erneut zu kandidieren. Nur er könne Donald Trump schlagen, davon ist er mehr als überzeugt. Und jetzt? Eigentlich ist allen US-Amerikanerinnen und -Amerikanern klar, dass nicht nur Biden zu alt ist, sondern auch Donald Trump, der ja mit 78 Jahren auch kein Jungspund mehr ist. Im Gegenteil. Er ist nicht nur alt, sondern auch moralisch ein Hasardeur. Nur sich selbst verpflichtet. Jetzt wird er von der neuen Opferrolle profitieren. In dieser Woche wird er am Wahlkongress der Republikaner erst recht und lautstark, nicht ohne Seitenhiebe gegen die Demokaten, sie seien am Attentat schuldig, gar beteiligt gewesen, zum Präsidentschafts-Kandidaten erkoren. Der Wahlkampf zwischen Trump und Biden, sofern Biden an seiner Kandidatur festhält, wird ein völlig neues Gesicht erhalten.
Es lohnt sich aber darüber nachzudenken, weshalb Biden so sehr von sich überzeugt ist, dass er es noch kann und auch meint, es auch noch weitere vier Jahre zu können. Einmal: Er ist ein guter Präsident, zweifellos. Er hat die stärkste, die bedeutsamste Nation der Welt, die Vereinigten Staaten von Amerika, gut, erstaunlich erfolgreich durch die letzten vier Jahre geführt. Er hatte nach vier Jahren Trump-Herrschaft ein schweres Erbe anzutreten. Trump und seine treuen Republikaner traten ihm überall und immer wieder nach. Verstummten nie. Im Gegenteil: Lautstark verkündigten sie immer wieder und überall, Biden habe ihrem Idol, wider besseres Wissen, die Präsidentschaft gestohlen. Biden liess sich nicht beirren, blieb sich und seiner Politik treu, schaffte es gar, die so gespaltene Nation wirtschaftlich erfolgreich auf Kurs zu halten. Bemerkenswert.
Der wichtigste Grund seines Beharrungsvermögens ist wohl, dass er über eine ausgezeichnete Administration verfügt. Man muss ich das bildlich vorstellen. Er sitzt nicht vom Morgen bis am Abend an seinem Schreibtisch, liest unablässig Akten, verfasst Briefe, gar Reden, erarbeitet politische Konzepte, entwickelt Strategien für das Verhältnis zu Russland, zum Krieg in der Ukraine, zu China, oder gar zu Europa. Nein, das alles machen seine brillanten Mitarbeitenden in der Administration. Im Pentagon beobachten, analysieren und interpretieren tagtäglich tausende Generalstabsoffiziere die militärische Weltlage, die kriegerischen Auseinandersetzungen im Gazastreifen, im Nahen Osten und überhaupt. Sie analysieren die militärischen Potenzen in Russland, China und anderswo. Sie erstellen laufend vorbehaltene Entschlüsse, die sofern nötig, sofort umgesetzt werden, nach denen ganze Armeeteile in Marsch gesetzt werden können. Und die Geheimdienste tragen zusammen, was öffentlich erfassbar ist und holen sich das, was nur mittels subversiven Geheimaktionen erfasst werden kann, was in Russland, China und anderswo geheim bleiben sollte.
Daraus entsteht tagtäglich der Lagebericht, welcher dem Präsidenten, wo er sich auch befindet, professionell vorgetragen wird. Biden verfügt über Jahrzehnte lange Erfahrungen, hat alle Hoch und Tiefs erlebt. Er handhabt die politische Mechanik in Washington virtuos, weiss um die gnadenlosen Ränkespiele, kann mit ihr und mit den Spielchen wie kein Zweiter umgehen. Er kann die richtigen Fragen stellen, die noch fehlenden Infos verlangen oder ungenügende Grundlagen zurückweisen, kann sich Lösungsvarianten vortragen, sich beraten lassen, Entscheide aufschieben, entscheiden. Was muss ein Präsident also können: Zuhören, Vor- und Nachteile eines Entscheides abwägen, die jeweiligen Folgen erkennen und ganz entscheidend: Er muss laufend hochkompetent kommunizieren können. Selenskyj ist tatsächlich nicht Putin und Trump nicht seine Vizepräsidentin. Die Versprecher lassen tief blicken. Er unterliegt Assoziationen, die sich als verkehrt herausstellen, einfach passieren und die er nicht beherrschen kann.
Nur: Jetzt mit 81 Jahren schafft er das alles nicht mehr. Ironie des Schicksals: Er wird zunehmend Opfer seiner Erfahrungen, die ihn blind machen, für das, was er bisher immer und rechtzeitig erkannte: die Realität, vor allem seine persönliche Verfasstheit. Und sein grösster Fehler war und ist leider noch, dass er niemanden an seinen profunden Erfahrungen teilhaben liess. Selbst Kamala Harris, seine Vizepräsidentin, liess er im Schatten stehen, liess nicht zu, dass sie sich profilieren konnte und jetzt wie selbstverständlich in seine Fussstapfen treten kann. Da hilft ihm auch der liebe Gott nicht weiter.
Und Trump? Er ist jetzt schon dran, eine Administration, seine Administration zusammenzustellen, die es in sich haben wird. Er wird vom ersten Tag an umsetzen, was er in seiner ersten Amtszeit nicht gewagt hat: seine persönliche Macht als Präsident weiter auszubauen. Denn konservative, geldmächtige Think-Tanks werden ihn unterstützen, haben ihm bereits eine politische Agenda erstellt, die er nur als ganz mächtiger Chef seiner Administration umsetzen kann. Gut Nacht Europa.
Alt ist, wer nicht erkennt, dass er alt ist. Das gilt für uns alle, nicht nur für Biden und Trump.
Mit 81 Jahren darf man Alterserscheinungen haben und muss sich auch nicht dafür entschuldigen oder gar schämen. Doch der amtierende, kluge und erfahrene aber alte US-Präsident kann nicht loslassen, wie so viele Staatsmänner vor ihm. Ich hoffe, seine Regierung hat eine/n adäquate/n Nachfolger:in an der Hand, sollte ihn plötzlich seine Energie im Stich lassen.
Wir Europäer:innen sollten auch loslassen, von Amerika dem Beschützer und Vorbild, denn das sind sie schon lange nicht mehr. In den USA herrscht zunehmende Armut, viele haben keine Krankenversicherung und kein Obdach. Amerika gehört zu den drei grössten Umweltverschmutzer weltweit, sind aber nicht bereit, den Klima- und Tierschutz ernst zu nehmen und die dringend notwendigen Änderungen vorzunehmen. Politische Fehlentscheidungen werden nicht selten vertuscht und vergessen wir nicht, dass die USA 1945 als bisher einziges Land in einem Krieg, Atombomben auf die Bevölkerung von Hiroshima und Nagasaki, abgeworfen hat. Diese furchtbaren Bomben trafen fast ausschliesslich Zivilisten und forderten über 100 Tausend Menschenleben, ganz zu schweigen von den vielen Betroffenen, die noch Generationen danach an den Folgen der nuklearen Wunden an Körper und Seele leiden.
Dieses grosse Land Amerika und seine mächtige Regierung hat eine zweigeteilte Gesellschaft mit total verhärteten Fronten geschaffen. Zur anstehenden Wahl steht ein verwirrter und körperlich geschwächter Präsident, der an seinem Amt festhält. Als bisher einziger Anwärter auf das höchste Amt, wird ein 78-jähriger Prolet, Populist, und Krimineller antreten, der mit seinen Behauptungen und nachweisbaren Lügen erfolgreich die Medien manipuliert und die Massen verführt und von gewaltbereiten Anhängern und von den Reichsten und Mächtigsten des Landes unterstützt wird.
Die US-Amerikaner lieben und verteidigen den Besitz eigener Waffen. Es herrscht eine weitverbreitete Wildwestmentalität. Früher schossen Sie auf Indianer und knallten Millionen von Bisons nur aus Lust am töten ab, verjagten die Eingeborenen von ihrem Land; die Nachfahren leben heute mehr schlecht als recht in Indianer Reservaten. Es gibt immer noch die Rassendiskriminierung gegen Schwarze, die oft ohne richterlichen Beschluss und manchmal lebenslang, in den Todeszellen der überfüllten Gefängnisse landen. In der Vergangenheit gab es immer wieder Angriffe auf Schulen und die Täter erschossen dabei wehrlose Schulkinder und Lehrpersonal.
Wen wunderts, dass es wieder einmal einen politischen Fiesling getroffen hat, der von einem jungen Republikaner zwar nur am Ohr getroffen wurde, jedoch unmittelbar danach von Scharfschützen von einem Hausdach brutal erschossen wurde, ohne dem Täter die Chance zu geben, vor einem Gericht seine Beweggründe darzulegen.
Amerika ist kein demokratisches Land, dort herrscht das Geld, die Medien und die Macht des Stärkeren. Was für Aussichten für dieses Land und für uns alle!
Einmal mehr: ein kluger, interessanter und sehr lesenswerter Aufsatz über Biden, Trump und die Administration im Weissen Haus. Ich gratuliere A.Schaller für diesen fundierten Textbeitrag.
Anton Schallers Zeilen sind immer lesenswert. Er nimmt klar Stellung und berichtet ausgewogen. Hoffentlich noch ein paar Jährchen weiter so!
Ich bin ein Nachkriegskind, für uns waren die USA immer das gelobte Land; ich wollte sogar in jungen Jahren dorthin auswandern, habe aber kein Visum bekommen. In letzter Zeit hat sich diese Ansicht aber komplett geändert. Europa muss sich unter einem Präsidenten Trump warm anziehen und sich auf seine eigenen Stärken besinnen, schliesslich sind wir doch ‹die alte Welt›. Es erstaunt mich auch, dass sich in diesem grossen Land keine jüngeren Leute für ein solches Amt finden lassen.
Anscheinend sagte Thomas Jefferson, ein Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung der USA, «Jeder freiheitsliebende Mann hat zwei Länder – sein eigenes und Frankreich». Für mich als Kind war dieses freie Land die USA. Ich wollte dorthin gehen und hatte das Glück, dass ich an eine Universität gehen und zwei Jahre dort verbringen konnte. Aber im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass die USA wie viele andere Länder auch ihre Schattenseiten haben. Der Tiefpunkt, meiner Meinung nach, war der Angriff auf das Kapitol während der Präsidentschaft von Trump. Ich frage mich, wie viel tiefer es noch sinken kann, aber ich bin sicher, dass es das wird.
Wie Anton Schaller schrieb, funktioniert die Regierung mit ihren Mitarbeitern gut und gibt dem Präsidenten den Freiraum, klar zu denken und Entscheidungen zu treffen, die nationale und internationale Konsequenzen haben. Wir in Europa müssen uns darauf vorbereiten, falls und wenn das Präsidentenamt an Trump oder einen seiner Gesinnungsgenossen geht. Wir müssen nicht nur unsere Verteidigung, sondern auch die tieferen Gründe für die Unzufriedenheit, die die US-Gesellschaft durchdringt, genau betrachten und sicherstellen, dass es hier nicht passiert.
Jefferson schrieb viel über Freiheit und es klingt immer noch so süß für mich, aber man muss sich bewusst sein, dass er viele Menschen in seiner Umgebung nicht als würdig für diese Idee ansah, wie zum Beispiel Frauen, Sklaven und gewöhnliche Menschen ohne Land. Freiheit nur für einen Teil der Gesellschaft ist keine Freiheit.Wohlstand nur für einen Teil der Gesellschaft ist auch kein Wohlstand.