Seit mehr als fünfzig Jahren gilt die Abegg-Stiftung als eine der führenden Institutionen zur Erhaltung und Pflege der Textilkunst. Seniorweb besuchte eine der Kuratorinnen, die Kunsthistorikerin Evelin Wetter.
In der freundlichen Atmosphäre der Hinterräume im eleganten Museumsgebäude treffe ich Evelin Wetter. Ich hatte sie als Kuratorin der gegenwärtigen Ausstellung kennengelernt. Während unseres angeregten Gesprächs erfahre ich, dass eine Kunsthistorikerin viel reist: von einer Entdeckung zur nächsten Trouvaille, und sie muss vielleicht in Sakristeien entlegener Dom- oder auch Pfarrkirchen suchen. Wer nämlich die textile Schatzkunst zu seinem Spezialgebiet macht, befasst sich nicht nur mit den bekannten Objekten in den Museen.
1988 hatte Evelin Wetter, in Ostwestfalen aufgewachsen, an der TU in Berlin angefangen, Germanistik und Kunstgeschichte zu studieren. «Ich war im Germanistikstudium schon weit fortgeschritten», erzählt sie mir, «als ich mir sagen musste, dass ich im Bereich der Germanistik kein Berufsfeld fand, das mich wirklich reizte. Also verlegte ich meinen Schwerpunkt ganz auf die Kunstgeschichte, die ich als zweites Hauptfach bereits studiert hatte. Zum Abschluss des Studiums verbrachte ich dann noch ein halbes Jahr in Prag».
Genau genommen waren es die böhmischen Bildstickereien, zu denen sie dort recherchierte und über die sie auch weiterhin wissenschaftlich arbeitete. Denn damals, Anfang der 1990er Jahre, war der von den Sowjets beherrschte Ostblock auseinandergebrochen, und man konnte ohne Hindernisse nach Prag oder später nach Rumänien reisen.
Versteckte Schätze im östlichen Mitteleuropa
«Feldforschung» – wie es in anderen Disziplinen heisst – wurde ein Schwerpunkt in Evelin Wetters beruflichem Werdegang. Schon von Berlin aus erforschte sie die textilen Schätze verschiedener Kirchen, etwa in Danzig oder Brandenburg, um sie in ihrem Material zu erfassen und in ihren historischen Kontext einzuordnen.
«Im Rahmen meiner ersten Anstellung am Zentrum Ostmitteleuropa in Leipzig wandte ich mich dann der Goldschmiedekunst des historischen Königreichs Ungarn im 15. und 16. Jahrhundert zu. So untersuche ich repräsentative profane Objekte, geschaffen etwa für Matthias Corvinus, jenen König, mit dem die Renaissance in Ungarn Einzug hielt, kostbare Reliquiare in katholischen Kirchenschätzen, aber auch Abendmahlsgerät in lutherischen Pfarrkirchen.» Letzteres fand Evelin Wetter vor allem in den Kirchen der Siebenbürger Sachsen.
Traditionen, von den Siebenbürger Sachsen bewahrt
Von ihren Reisen hat sie viel zu erzählen, es waren stets Begegnungen mit Menschen, die sie vor allem bewegten, nicht nur mit kunsthistorisch interessanten Werken. Seit den 1990er Jahren hatten die Menschen in Siebenbürgen / Rumänien die Freiheit auszureisen, wohin sie wollten. Viele zogen nach Deutschland, weil sie dort endlich «gutes Geld» verdienen konnten. Zurück blieben nur die Alten. «Das war traurig zu sehen», sagt Evelin Wetter. Gerade diese waren für die Kunsthistorikerin besonders wichtig, denn sie hatten den Schlüssel zu den Kirchen, wo sich nicht nur die Abendmahlskelche, sondern manchmal auch noch alte Messgewänder fanden.
Evelin Wetter erläutert 2015 in der Sakristei der Schwarzen Kirche in Kronstadt einen liturgischen Mantel, der aus einem spätmittelalterlichen Kaftan geschneidert wurde. © Árpád Udvardi, Kronstadt
Durch Zufall machte sie auf einer ihrer Reisen Bekanntschaft mit einer sehr betagten Dame. Diese hatte in der Schwarzen Kirche in Kronstadt (Brașov) lange die dort bewahrten osmanischen Teppiche und alte liturgische Gewänder betreut. Diese Gewänder waren im Mittelalter entstanden und wurden bis ins 19. Jahrhundert von den evang.-lutherischen Pfarrern getragen. Das bedeutete, dass sie auch geflickt oder für neue Nutzungen umgearbeitet worden waren, eine spannende Forschungsgrundlage für das 2015 abgeschlossene «Kronstadt-Projekt».
Wie sie nach Riggisberg gekommen sei, will ich von Evelin Wetter wissen: «Als ich nach der Promotion an einem Buch zum Brandenburger Paramentenschatz mitarbeiten durfte, war daran auch die Abegg-Stiftung beteiligt. Später, als ich schon längst in Leipzig war, erfuhr ich, dass in Riggisberg eine Expertin für Stickereien gesucht wurde – das ist meine Spezialität. Ich bewarb mich und freute mich sehr, als mir die Stelle angeboten wurde.»
Die Abegg-Stiftung hat einen weltweiten Ruf für die Restaurierung von Textilien, jedoch beschäftigt sich eine Kunsthistorikerin wie Evelin Wetter damit nicht. Wie sie denn den Alltag in der Abegg-Stiftung empfinde, frage ich: «Kein Tag ist wie der andere.»
Vielseitige Tätigkeit in Riggisberg und Leipzig
Hauptsächlich arbeitet sie mit der Sammlung, schreibt Bücher über einzelne Werke oder Werkgruppen, bereitet Ausstellungen vor, macht Führungen etc. Daneben unterrichtet sie mitunter die Studierenden des Studiengangs Textilkonservierung/-restaurierung der Abegg-Stiftung, regelmässig – als Honorarprofessorin – aber auch angehende Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker an der Universität Leipzig. Ihre Kurse dort hält sie in Form von Blockseminaren ab, so dass sie nicht wöchentlich nach Leipzig fahren muss. Dafür, dass sie ihre Leipziger Seminare in ihrer Arbeitszeit vorbereiten und durchführen darf, ist sie der Abegg-Stiftung sehr dankbar.
Ihre Lehre ist objektbezogen konzipiert. Die Kunstgegenstände, darunter natürlich Textilien, aber auch Werke anderer Gattungen, dienen als primäre Quelle. «In der konkreten Anschauung lassen sich viele Beobachtungen machen und zu grösseren Fragestellungen weiterentwickeln.» Besonders gut gelingt dies vor Originalen, etwa im Leipziger GRASSI Museum für Angewandte Kunst, aber auch auf Exkursionen wie zuletzt in die Kathedralen von Halberstadt und Brandenburg.
Einblick in die Ausstellung «Freund und Feind. Das Tier in der mittelalterlichen Textilkunst» 2016. © Abegg-Stiftung, CH-3132 Riggisberg (Christoph von Viràg)
Ihre erste eigene Sonderausstellung kuratierte Evelin Wetter 2012, nachdem das Museum bis 2011 durch einen Anbau erweitert worden war. Damals kamen viele Reisegruppen in Bussen, das Interesse am wiedereröffneten Museum und an der neuen Dauerausstellung war ausserordentlich gross. Damals wie heute kamen eher ältere Menschen, aber auch jüngere Erwachsene. – Die Sonderausstellung des Jahres 2016, die Tiere in der mittelalterlichen Textilkunst zeigte, war auch bei Kindern sehr beliebt. Evelin Wetter konzipierte eine Führung extra für Kinder, die jedes Mal sehr vergnügt und interessiert teilnahmen.
Dass nicht nur Kinder Spass hatten, sondern auch sie selbst, konnte ich in unserem lebhaften Gespräch gut spüren. – Danke, liebe Frau Wetter!
Titelbild: Portrait Evelin Wetter © Abegg-Stiftung, CH-3132 Riggisberg (Christoph von Viràg)
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Evelin Wetter: Angaben zum Lebenslauf und zu ihren zahlreichen Publikationen.
Abegg-Stiftung Riggisberg BE
Beachten Sie den Bericht über die aktuelle Ausstellung: Raffinierte Täuschungen