5 KommentareEin Leben als Auslandschweizerin - Seniorweb Schweiz
StartseiteMagazinLebensartEin Leben als Auslandschweizerin

Ein Leben als Auslandschweizerin

Anita Gurtner kenne ich von ihren Kunstführungen im Museum Langmatt in Baden. Sie erzählte mir oft von ihrem Leben in Indien, in Senegal und vor allem in Rom. Mittlerweile ist sie 90 Jahre alt und lebt in einer Alterswohnung. Doch man begegnet ihr immer noch im Museum, im Theater, und stets ist sie eine anregende Gesprächspartnerin.

Anita Thoma (*1934), so ihr Mädchenname, wuchs in Zürich-Enge auf. In der Schule gab es jüdisch orthodoxe Kinder, denen sie am Samstag jeweils die Schulmappe trug, denn am Schabbat, dem jüdischen Ruhetag, durften diese nichts tragen. «Ich wusste, die sind einfach anders». Was für Anita ganz normal war. Auch sie selbst war als Ungetaufte in jener Zeit eine Aussenseiterin. Ihre Mutter, aus der Innerschweiz, hatte als 18-Jährige bei der Beichte eine unliebsame Erfahrung gemacht und betrat von da an nie mehr eine Kirche. Heiratete 1932 nur zivil und liess auch ihre Kinder nicht taufen.

Die Aussenseiterin

Anitas deutscher Vater wurde von der deutschen Botschaft nach Bern zitiert mit der Aufforderung, der NSDAP, der Nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei, beizutreten. Auf der Stelle zerriss er seinen Pass und wurde schriftenlos. Die Familie hatte nur noch Anrecht auf eine 2 ½ Zimmer Wohnung, die Mutter durfte nicht mehr arbeiten und musste sich alle drei Monate bei der Fremdenpolizei melden. Nur dank der Grossmutter konnten sie gemeinsam in einer grösseren Wohnung leben.

Anita Gurtner lebt selbständig in ihrer Alterswohnung.

Der Bruder kam 1941 zur Welt. Beide waren sehr blond und hatten blaue Augen. Die hiesigen Nazis wollten die Eltern verpflichten, die Kinder in die Zürcher Hitlerjugend zu schicken, was nicht in Frage kam. Noch in der Sekundarschule zeigte ein Lehrer mit dem Finger auf Anita und sagte, «da hockt auch so ein Nazigof». Sie packte ihren Schulsack und ging nach Hause. Ein Bekannter der Eltern stellte den Lehrer zur Rede. Von da an liess er sie in Ruhe, sagte ihr nur immer, du bist dumm und schaffst den Schulabschluss nicht. Aber Anita bewies das Gegenteil und hatte danach genug von der Schule.

Lehrzeit in England und in Zürich

Eine Tante lebte in England. Allein reiste sie 1949 zuerst nach Paris zu einer Cousine der Mutter und nach drei Wochen weiter nach England. Hier konnte sie bei einer Familie mit Kindern wohnen und Englisch lernen. Nach sechs Monaten kehrte sie nach Zürich zurück und meldete sich mit Erfolg auf ein Zeitungsinserat von Seiden-Grieder, der für die englischsprachige Kundschaft jemanden suchte. Danach absolvierte sie eine Lehre als Laborantin für Histologie und Hämatologie am Kantonsspital Zürich (heute UNI Spital). Der Professor schickte sie nach zwei, statt nach drei Jahren, zur Lehrabschlussprüfung, die sie bestand.

Ein Schiffsarchitekt tritt ins Leben

Über den Bruder einer Freundin lernte Anita ihren zukünftigen Mann kennen. Er arbeitete in Rom, kam jedes Wochenende per Flugzeug sie besuchen und wollte sie heiraten. Eigentlich traute sie den Männern nicht. Aber nach sechs Wochen sagte sie Ja, und sie heirateten in Rom. Anfangs arbeitete sie in einem Labor in Rom, aber wegen der unregelmässigen Arbeitszeiten und des langen Arbeitswegs hörte sie nach drei Monaten auf. Zudem wurde sie schwanger. Ihr Sohn kam in Zürich zur Welt.

Modell eines deutschen Handelsschiffes, Ende 18. Jh. An diesem Modell aus Holz arbeitete Anitas Mann als Gymnasiast während drei Jahren. Ein Stich diente als Vorlage.

Peter Gurtner (*1928), Anitas Ehemann, stammte aus Bern. Schon als Kind begeisterten ihn Schiffe, und er baute als Gymnasiast ein Segelschiffmodell aus Holz. Es steht heute noch in Anitas Stube. Er wollte Schiffsarchitekt werden und fand in Schottland, in Glasgow, einen der wenigen Studienplätze Europas. Als Naval Architect arbeitete er danach innerhalb der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen FAO (Food and Agriculture Organization) mit Sitz in Rom. Er entwarf und baute der Situation angepasste motorlose Fischerboote, die der Ernährung der Menschen dienten, und die sich die einfachen Fischer leisten konnten.

Leben in Indien und Afrika

Als ihr Sohn einjährig war, wurde Anitas Mann von Rom aus nach Indien versetzt. Zuerst nach Madras, heute Chennai, dann nach Kerala. Hier entwickelte er auf Bootswerften schmale, flache Boote, die ohne Motor über die Wellen gleiten können. Er war für die ganze indische Küste verantwortlich und bildete Studenten aus. Diese hofften auf ein Stipendium aus Norwegen oder Holland. Anita beherbergte sie jeweils während der drei bis vier Wochen dauernden Ausbildung. Sie zeigte ihnen unsere Umgangsformen, etwa wie man bei Tisch mit Besteck isst, für einen einfacheren Start im Westen

Erinnerungen an Indien: Figuren aus Bronze und Elfenbein

Nach vier Jahren in Indien wurde Peter Gurtner nach Senegal versetzt. Wiederum für die Einführung angepasster Fischerboote. Sie hatten nun zwei Kinder. In Dakar fanden sie ein Haus im Quartier, wo Lehrer und senegalesische Offiziere wohnten. Da die Wüste vordrängt, gab es nur kleine Gartenanteile bei den Häusern. In ihrem Garten gab es ein «Lusthäuschen», wo zeitweise eine Voliere eingerichtet war. Später baute Anita ein Kasperlitheater darin auf, zur Freude der Kinder im Quartier. Für den St. Nikolaustag kleidete sie einen Bekannten als Samichlaus ein und die Kinder schrien auf der Strasse begeistert «le vrai Père Noël». Ihre Kinder spielten selbstverständlich mit den einheimischen Kindern. Diese mussten lernen, dass sie fremde Spielsachen nicht einfach mitnehmen durften. Es war für Anita ein ständiges Abtasten und Lernen, wie man sich verhalten soll.

Erinnerungen an Senegal: zwei geschnitzte Holzfiguren und ein Ölgemälde aus Dakar

Weg zur Kunstgeschichte in Rom

Nach zweieinhalb Jahren kehrten sie nach Rom zurück. Peter Gurtner wurde befördert und hielt in der ganzen Welt Vorträge über den Bau angepasster Fischerboote, die der Ernährung dienten. In Rom begann nun für Anita das Paradies. Sie besuchte Vorlesungen an der Uni über Kunstgeschichte und gab auf Nachfrage selbst Kurse, von den Etruskern bis zum Barock. Bekannte aus dem Ausland führte sie zu den Sehenswürdigkeiten in Rom und Umgebung.

Erinnerung an Rom: «Romulus und Remus», Kopie einer antiken Bronzefigur, Geschenk eines Archäologieprofessors.

Bei der FAO gab es einen neuen Direktor, mit dem sich ihr Mann nicht gut verstand. Deshalb liess er sich vorzeitig pensionieren und die Familie kehrte 1985 in die Schweiz zurück. In Wettingen fanden sie eine Wohnung, das Kloster Wettingen hatte es Anita angetan. Doch schon nach fünf Jahren starb ihr Mann an einem Herzinfarkt. «Es sind Schicksalsschläge, auf die man nicht vorbereitet ist», sagt Anita.

Durch ein Empfehlungsschreiben eines römischen Professors begann sie im Landesmuseum Zürich Führungen zu machen, auch auf Italienisch und Englisch. Ebenso im Badener Museum Langmatt. Zudem engagierte sie sich bei Pro Senectute, bot Italienerinnen zweimal monatlich einen Begegnungsnachmittag an und organisierte während zwanzig Jahren den Mittagstisch. Mit ihren Kindern und Enkeln ist sie eng verbunden und steht mit Freundinnen und Bekannten in regem Kontakt, auch wenn es weniger werden.

 

Spenden

Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, Sie zum Denken angeregt, gar herausgefordert hat, sind wir um Ihre Unterstützung sehr dankbar. Unsere Mitarbeiter:innen sind alle ehrenamtlich tätig.
Mit Ihrem Beitrag ermöglichen Sie uns, die Website laufend zu optimieren, Sie auf dem neusten Stand zu halten. Seniorweb dankt Ihnen herzlich.

IBAN CH15 0483 5099 1604 4100 0

5 Kommentare

  1. Welch interessantes, vielseitiges Leben! Ich freue mich, dass ich so Anita besser kennen lernen konnte. Ich habe sie nur relativ flüchtig an den Exkursionen der vfhk.ch kennen gelernt, an denen sie gerne teilnimmt. Ich wünsche ihr alles Gute.

  2. Ein toller Bericht über ein sehr abwechslungsreiches und interessantes Leben. Eine wunderbare Frau mit lebhaftem Interesse an Menschen und ihrer Umgebung. Anita ist immer wieder an Exkursionen der Vereinigung für Heimatkunde des Bezirks Baden dabei. Die Fotos zeigen, dass Anita in ihrem neuen Daheim gut angekommen ist.

  3. Sehr eindrückliches Interwiew mit dem bekannten Bild: Ein Mann mit Mut und grossem Können und neben ihm eine Frau mit noch mehr Mut, Einsatz und Initiative. Die vielen Parallelen zu meinem eigenen Lebenslauf lassen mich Anita Gurtner sehr bewundern! Dabei darf man sich stets an ihrem Humor und ihrem wachen Geist freuen! Gemeinsame Reisen mit der Vereinigung für Heimatkunde haben uns näher gebracht und ich hoffe auf Anita‘s lange währende Gesundheit!
    Lotti Heller

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Beliebte Artikel

Mitgliedschaften für Leser:innen

  • 20% Ermässigung auf Kurse im Lernzentrum und Online-Kurse
  • Reduzierter Preis beim Kauf einer Limmex Notfall-Uhr
  • Vorzugspreis für einen «Freedreams-Hotelgutschein»
  • Zugang zu Projekten über unsere Partner
  • Massgeschneiderte Partnerangebote
  • Buchung von Ferien im Baudenkmal, Rabatt von CHF 50 .-