Vom 24. August bis 18. September 2024 startet das Berliner Konzertleben mit «Amériques» in die neue Spielzeit. Es ist die 20. Ausgabe des Musikfests, veranstaltet von den Berliner Festspielen in Kooperation mit der Stiftung Berliner Philharmoniker.
Das Eröffnungskonzert mit dem São Paulo Symphony Orchestra, welches in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag feiert, brachte Standing Ovations und begeisterte Applausstürme für den Klangkörper sowie für den Sologeiger Roman Simovic. Ein Erlebnis der Extraklasse als fulminanter Beginn der Konzertreihe.
Thierry Fischer am Pult seines grossartigen Orchesters aus São Paulo.
Das diesjährige Musikfest Amériques stellt Werke aus den beiden Amerika ins Zentrum. Zu hören werden eine Vielzahl von Kompositionen sein, die einem breiten Konzertpublikum der Alten Welt neu sind. Und für spontan Entschlossene: Es gibt für fast jedes Konzert noch Karten. Während Pop, Tango oder Jazz, auch Samba oder Hip Hop aus allen Teilen des Doppelkontinents durchaus geläufig sind, ist deren reiche klassische Musik selbst einem musikaffinen Publikum viel zu wenig bekannt.
Edgar Varèse hat vor einem Jahrhundert sein Orchesterstück, dessen Titel das Motto für das diesjährige Musikfest abgibt, bewusst mit Amériques überschrieben; es ist der Sound einer multiethnischen Metropole, in dem Vogelrufe den Central Park und Schiffssirenen den Verkehr auf dem Hudson River evozieren.
Das Musikfest Berlin 2024 als Wimmelbild, gezeichnet von der Illustratorin Alexandra Klobouk. © Alexandra Klobouk
Als erstes interpretierten die Musiker aus São Paulo mit ihrem Dirigenten Thierry Fischer, einem Schweizer aus Genf, Charles Ives› Central Park in The Dark (1906-09, rev. ca. 1936): das Klangbild, wie der Komponist schreibt, «einer heissen Sommernacht auf einer Bank im Central Park, bevor der Verbrennungsmotor und das Radio Erde und Luft monopolisierten». Aus dem Nichts formt sich ein wunderbarer Klangteppich, verdichtet sich, bis die Musik der Schwarzen, die Ives als die Folklore des urbanen New York in seine Kompositionen einbaute, mit Ragtime und Nachtclubsound Akzente setzt, bevor die Musik im dunklen Central Park wieder in der Stille verklingt.
Charles Ives (1874-1954) war ein engagierter Komponist, aber reich wurde er in der Versicherungsbranche, was ihn zu einem wichtigen Sponsor werden liess. Er kannte die europäische Musik, deren Regeln er jedoch für einen Klangkosmos der Neuen Welt über Bord warf. Seine Musik wurde erst Jahrzehnte nach ihrer Entstehung bekannt und heute gilt er als erster wichtiger Komponist der Moderne Nordamerikas – von dem es aber noch viel zu entdecken gibt.
Der Geiger Roman Simovic spielt die lange Anfangskadenz des Orchesterstücks von Alberto Ginestra
Das Konzert für Violine und Orchester (1963) des Argentiniers Alberto Ginestra war dann gewissermassen ein doppeltes Geschenk fürs Publikum. Mit dem montenegrinischen Geiger Roman Simovic, der seine Stradivari so virtuos wie einfühlsam streicht – und seine stupende Virtuosität mit Eugène Ysaÿes „Ballade“ als Zugabe nochmals beweisen durfte –, haben das beeindruckende Orchester aus São Paulo und der Komponist den wohl idealen Solisten gefunden.
In dem Programm durfte Heitor Villa-Lobos, der Staatskomponist Brasiliens, nicht fehlen. Die sinfonische Dichtung Uirapurú (1917/1934) ist eine Antwort auf den Feuervogel von Igor Strawinsky. Erstmals in der Klassischen Musik setzt Villa-Lobos nebst den vielfältigen Perkussionsinstrumenten ein Sopransaxophon ein. Es ist die Stimme des mythischen Vogels. Suggestive Melodien und Rhythmen verführen die Hörenden in den Urwald einer höchst effektvoll erstellten Natürlichkeit des Modernismo, der bei Villa-Lobos mit Rückgriffen auf die heimische Folklore als eigenständiger Brasilianismo firmiert.
So viele Musikerinnen und Musiker fordert Edgar Varèses Komposition «Amériques».
«Bigger than Life» ist Edgar Varèses Amériques (1918-1922, rev. 1927): Ein Ultramoderner, der mit seinem grössenwahnsinnigen Stück, welches in der Urfassung weit über 200 Musiker erforderte, damals schockierte. Das Orchester aus São Paulo ist mit rund 130 Mitgliedern angereist. Diese heute noch unerhörte Musik, welche von feinsten Flötentönen bis zu bombastischen Klangwänden, die einem wie ein Tsunami entgegenrollen, das musikalische Bild einer Grossstadt malt, ist ein Amalgam aus Einflüssen der Alten und der Neuen Welt.
Varèse hat nicht nur John Cage und Morton Feldman beeinflusst, er hat auch den Sacre du printemps gekannt und die Klangballungen von Richard Strauss und Gustav Mahler im Hinterkopf gehabt. Ist das Werk eine Art Abschied von diesen grossen Komponisten aus Europa oder ist es der Aufbruch in die Moderne?
Die Philharmonie wurde 1963 von Hans Scharoun erbaut.
Berlin jedenfalls hat mit der phänomenalen Akustik von Hans Scharouns Philharmonie den idealen Konzertsaal, der solche und ähnlich monumentale Werke für ein Riesenorchester erst in ihrer ganzen exzentrisch-ekstatischen Vielfalt zum Blühen bringen kann.
Das Konzert war eine Offenbarung der transatlantischen Musikwelt der Moderne. Einen Abend mit vier Werken aus dem 20. Jahrhundert zu gestalten, ist ein kühnes Unterfangen, wenn unsereiner ans heimische Publikum in Zürich und Umgebung denkt. Hier jedoch ist diese panamerikanische Musik mit dem São Paulo Symphony Orchestra eins der Highlights für Menschen, welche mit offenen Ohren und der nötigen Neugierde vorurteilsfrei musikalische Erlebnisse suchen.
Jordi Savall und sein Ensemble bringen mit dem Programm «un mar de músicas» kreolische Lieder und Lieder der Sklaven und Sklavinnen der Alten und Neuen Welt in die Philharmonie. Foto © Danile Dittus
In den kommenden Wochen folgen sich berühmte Klangkörper aus Amerika und Europa, natürlich auch jene aus Berlin. Der im vergangenen Jahr Verstorbenen, Kaija Saariaho, Aribert Reimann, Peter Eötvös und Wolfgang Rihm wird mit der Aufführung einzelner Werke gedacht. Die Musik von Ruth Crawford Seeger (1901-1953) tritt in einem dreiteiligen Konzertporträt, interpretiert vom Ensemble Modern, in Dialog mit Zeitgenossinnen und heutigen Komponistinnen, unter anderen bekommt auch Isabel Mundry eine dreiteilige Werkschau.
Das Gustav Mahler Jugendorchester hat einen riesigen Applaus für perfekte Performance eines aussergewöhnlichen Programms bekommen. Dirigent Ingo Metzmacher hat zwischen zwei Wagner-Instrumentalstücke aus dem «Parsifal» Luigi Nonos «A Carlo Scarpa» wie einen mittleren Satz eingefügt – besser geht nicht. Foto © Fabian Schellhorn
Reichhaltig programmiert ist aber auch bekannte klassische Musik, wer Bruckner, Beethoven oder Mahler liebt, kommt auf seine Kosten. Zum Abschluss des Musikmonats gibt es nochmals eine Köstlichkeit: Die Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker mit Sir Simon Rattle am Pult und dem wunderbaren Hornisten Dieter Dorn von den Philharmonikern als Solisten führen Olivier Messiaens Des canyons aux étoiles auf, die spirituelle Hymne, die der Komponist einst als Geschenk zum 200. Geburtstag der USA schrieb.
Titelbild: Soirée der Moderne am 25. August: Charles Ives meets Arnold Schönberg. Ein musikalisch-literarisches Programm. Es gab viel Applaus für die Mitwirkenden.
Alle Fotos © Berliner Festspiele, Fotos: Fabian Schellhorn
Hier geht es zum Programm des Musikfests Berlin 2024
Mehrere Konzerte zum Nachhören gibt es
bei der ARD Mediathek,
beim Deutschlandradio Kultur
und in der Mediathek der Berliner Festspiele