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Als in Brasilien die moderne Kunst aufblühte

Selten ausgestellte Meisterwerke aus dem Brasilien des 20. Jahrhunderts zeigt das Zentrum Paul Klee in Bern unter dem Titel «Brasil! Brasil! Aufbruch in die Moderne»: – vielseitig, temperamentvoll, farbenfroh wie das Land selbst!

Brasilien scheint gerade greifbar nahe zu liegen. Nicht nur das Zentrum Paul Klee präsentiert in diesem Herbst eine sorgfältig ausgewählte Schau auf die Wurzeln der brasilianischen Malerei im 20. Jahrhundert. Auch die Biennale in Venedig hatte dieses Jahr Brasilien als Schwerpunkt und mit Adriano Pedrosa einen Kurator aus diesem vielfältigen Land.

Abgesprochen war das nicht, unmöglich, denn allein die Vorbereitung der Berner Ausstellung hatte sich über fünf Jahre hingezogen. Kuratorin Fabienne Eggelhöfer, unterstützt von ihrer brasilianischen Kollegin Roberta Saraiva Coutinho, suchte die besten Werke aus den wichtigsten Sammlungen des Landes.

Eggelhöfer erzählt, wie fasziniert sie von der brasilianischen Kunst war, als sie dort vor einigen Jahren eine Paul Klee-Ausstellung kuratierte. Sie erkannte, dass Europa den Künstlerinnen und Künstlern vor hundert Jahren zwar wichtige Schritte zu deren eigener Ausdruckskraft ermöglicht hatte, dass jedoch die Resultate – die Werke selbst – in Europa unbekannt geblieben waren. Es passt zum kürzlich definierten Auftrag, den sich das Zentrum Paul Klee selbst gestellt hat: einen Dialog mit allen bedeutenden Kunstregionen der Welt zu führen, oder mit anderen Worten: Wo immer im 20. Jahrhundert Neues geschaffen wurde, darauf soll der Fokus gerichtet werden.

Ausstellungsansicht Foto: René und Elisabeth Bühler.
Im Vordergrund: Vicente do Rego Monteiro: Mulher sentada, 1924. Öl auf Leinwand. Sammlung Luciana e Luis Antonio de Almeida Braga

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts herrschte in Brasilien Aufbruchstimmung: Die Republik wurde 1889 ausgerufen, im Jahr zuvor war die Sklaverei abgeschafft worden. Nun konnten bzw. mussten viele ausgebeutete oder bisher versklavte Menschen durch den wirtschaftlichen Aufschwung ihren Lebensunterhalt verdienen. Zudem profitierte das Land von seiner monopolähnlichen Stellung im Kaffeehandel. Dadurch wurden Architektur, Design, Musik, Literatur und die «Schönen Künste» beflügelt, nicht zu reden vom Karneval in Rio de Janeiro.

Andauernde Probleme entstanden aus der Heterogenität der Bevölkerung. Bis heute erweisen sich die unterschiedlichen regionalen Kulturen zwischen Amazonas und São Paulo, zwischen Einwanderern aus Europa, Ureinwohnerinnen und Ureinwohnern sowie zwangsweise aus Afrika herbeigeschafften Arbeitskräften als immerwährende Herausforderung.

Anita Malfatti: Primeiro nu cubista ou O pequeno nu, 1916. Öl auf Leinwand. Sammlung Luciana e Luis Antonio de Almeida Braga. Foto: Jaime Acioli

In der Kunstszene orientierte man sich an Europa, nicht an der Kunst der früheren portugiesischen Kolonialherrschaft, von der die Kirchenarchitektur geprägt war. Gerade die jüngeren Künstler und Künstlerinnen wollten sich von der Kunst in Paris oder Berlin inspirieren lassen.

Anita Malfatti (1889-1964) wurde die «Pionierin» der modernen Kunst Brasiliens. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie und genoss die Jahre ihrer Ausbildung in Berlin 1910 bis 1914. Sie kommt in Kontakt mit expressionistischen Künstlern, lernt auch den Futurismus und den Kubismus kennen. 1917 kann sie ihre Werke zum ersten Mal in São Paulo zeigen und stösst bei den etablierten konservativen Kunstkritikern auf Unverständnis, von jungen Vertretern der Avantgarde erhält sie jedoch viel Anerkennung. Im Laufe der Jahre gelingt es Anita Malfatti, in ihrer Kunst, Einflüsse aus Europa, den USA und Brasilien thematisch und stilistisch zu kombinieren.

In der aktuellen Ausstellung werden ungefähr 130 Werke von zehn brasilianischen Künstlerinnen und Künstlern gezeigt. Es sind einerseits Kunstschaffende, die seit Jahrzehnten zum Kanon der brasilianischen Kunst gehören, Anita Malfatti, Vicente do Rego Monteiro, Tarsila do Amaral, Lasar Segall und Candido Portinari.

Lasar Segall: Bananal, 1927. Öl auf Leinwand. Sammlung der Pinacoteca de São Paulo, erworben durch das Governo do Estado de São Paulo, 1928. Foto: Isabella Matheus

Lasar Segall (1889-1957) stammte aus einer jüdischen Familie in Litauen, hatte sich in Berlin mit dem Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit auseinandergesetzt. 1913 besuchte er Brasilien, um seine Geschwister zu sehen. Erst 1923 entschliesst er sich, endgültig dorthin überzusiedeln. In seinen Bildern finden wir die üppige tropische Pflanzenwelt Brasiliens, er schafft aber auch Werke zu Themen der Judenverfolgung und -vernichtung in Europa. – Die nationalsozialistische Rhetorik wirkte leider bis nach Brasilien: Von bestimmten Kreisen wurde Segall als «degenerierter» Künstler diffamiert.

Tarsila do Amaral (1886-1973) absolviert zuerst eine klassische Kunstausbildung in São Paulo, bevor sie 1920 nach Paris geht. Dort findet sie im Laufe ihrer Reisen wichtige Anregungen und lernt Künstler kennen wie Picasso, De Chirico und Fernand Léger. Zusammen mit ihrem damaligen Partner Oswald de Andrade bringt sie Brasilien nach Paris und lädt ihre Künstlerfreunde in ihre Heimat ein, darunter auch Blaise Cendrars, den Schweizer Weltreisenden und Schriftsteller, der sie auf ihre brasilianischen Wurzeln aufmerksam macht.

Tarsila do Amaral: Povoação I, 1952. Öl auf Leinwand. Sammlung Airton Queiroz, Fortaleza. Foto: Falcão Junior  © Tarsila do Amaral S/A

Ihre Bilder legen Zeugnis ab von ihrer künstlerischen und ideellen Entwicklung: Sie kehrt zurück auf die Kaffeeplantage ihrer Jugend, lernt das Leben der Arbeiterinnen und Arbeiter kennen und malt schliesslich Themen der Arbeiterschaft in einer Art «stilo realistico».

Daneben sehen wir in Bern fünf Kunstschaffende, die erst spät von der «offiziellen» Kunstszene anerkannt wurden: Alfredo Volpi, Flávio de Carvalho, Djanira da Motta e Silva, Rubem Valentim und Geraldo de Barros.

Alfredo Volpi: Sem título, 1955–1959. Tempera auf Leinwand. Sammlung Igor Queiroz, Fortaleza, CE.  Foto: Jaime Acioli

Einige von ihnen waren Autodidakten oder hatten nur eine sehr geringe Kunstausbildung genossen. Flávio de Carvalho ebenso wie Geraldo de Barros ignorierten die klassischen Einteilungen, schufen Werke in bildender Kunst, Architektur und Design. Besonders de Carvalho erregte mit seinen Performances Anstoss bzw. öffentliches Ärgernis.

Alfredo Volpi (1896-1988), dessen Eltern aus Italien stammten, betrachtete sich als «Sonntagsmaler»: Mit Freunden zusammen besuchte er Volksfeste am Stadtrand oder am Meer und malte, was er dort sah. Seine Bilder wurden zunehmend abstrakte Kompositionen von Häusern oder Schiffen. Besondere Akzente setzt Volpi durch Farben und Farbkombinationen. Wenn wir diese Bilder anschauen, wundert es uns nicht, dass von Volpi erzählt wird, er – der Autodidakt – habe seinen jungen Nachfolgern empfohlen, Paul Klee zu studieren.

Ausstellungsansicht Foto René und Elisabeth Bühler. Links ein Werk von Ruben Valentim

Es ist unmöglich, hier alle Künstlerinnen und Künstler vorzustellen. Sie alle sind mit ausdrucksstarken Werken vertreten. Hingewiesen sei auf Djanira da Motta e Silva (1914-1979) mit Wurzeln in den indigenen Völkern Brasiliens und auf Rubem Valentim (1922-1991) mit afro-brasilianischen Wurzeln Beide mussten sich als Autodidakt bzw. Autodidaktin ihren Platz in der Kunstwelt Brasiliens erkämpfen.

Ausstellungsansicht mit Fabienne Eggelhöfer, Kuratorin des Zentrums Paul Klee.
Foto: René und Elisabeth Bühler
Grosses Bild: Djanira da Motta e Silva: Três orixás, 1966, Öl auf Leinwand. Sammlung der Pinacoteca de São Paulo, 1969 erworben durch das Governo do Estado de São Paulo © Instituto Pintora Djanira

Djanira da Motta e Silva widmet sich im Lauf ihres Lebens immer stärker sozialen Themen, wird Mitglied des Partido Comunista Brasileiro, was sich auch in ihrer Kunst niederschlägt. Rubem Valentim arbeitet mit Symbolen: Pfeil, Dreieck, Kreis und Beil -, und schafft daraus eine universelle Bildsprache.

Auch wenn Sie bisher nur Samba und Bossa Nova kannten oder ein Werk des Komponisten Heitor Villa-Lobos, diese Ausstellung wird Ihnen die Vielfalt, die Kraft und den Elan der brasilianischen Kulturen vor Augen führen. Ein reichhaltiges Rahmenprogramm ergänzt die Ausstellung.

«Brasil! Brasil! Aufbruch in die Moderne.»
Im Zentrum Paul Klee, Bern bis 5. Januar 2025.

Titelbild: Tarsila do Amaral: O lago, 1928. Öl auf Leinwand. Hecilda e Sergio Fadel Foto: Jaime Acioli © Tarsila do Amaral S/A

 

 

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