Das wurde ich neulich an einer Lesung gefragt: Wie haben Sie es mit Gedichten? Gerne gebe ich die Frage weiter und bin mir bewusst, wir begeben uns damit auf heikles Terrain. In den meisten Buchhandlungen füllt das Nischenprodukt Lyrik allerhöchstens ein Regalbrett und auch äusserst gute Leserinnen und Leser gestehen oft, mit der Lyrik hätten sie es nicht so.
Leuchten wir doch mal ein wenig in diese Nische. Denn bei Lichte betrachtet sind Gedichte harmlos. Weder beissen sie noch schnappen sie zu. Allerdings folgte ihnen zumindest früher die Deutschlehrerfrage, die vielen von uns Gedichte für lange Zeit oder schlimmstenfalls für immer vergiftete: Was will uns der Dichter damit sagen? Dass es auch damals schon Dichterinnen gab, war für diese Sorte Deutschlehrer ein zu vernachlässigendes Detail.
«Der Herbst ist für mich durch die Bilder, die er an klaren Tagen hervorzaubert, wie jenes auf diesem Bild, für mich die poetischste aller Jahreszeiten,» schreibt Theres Roth-Hunkeler. Sie ist auch die Fotografin dieser Ansicht vom Lauenensee.
Was Dichterinnen und Dichter uns mit ihren Werken sagen wollen, soll uns nicht kümmern. Das Gedicht selbst zählt, nicht die Absicht dahinter. Das Gedicht ist aus Sprache, aus Wörtern gemacht. Und wenn Sie ein Gedicht in einer Ihnen vertrauten Sprache lesen, dann verstehen Sie es. Vielleicht kommt Ihnen die Kombination der Wörter unvertraut, seltsam oder geheimnisvoll vor. Kann sein, dass Sie den Kopf schütteln, kann sein, dass Sie nochmals und langsam lesen, was Sie da vor Augen haben. Zeile für Zeile. Kann sein, dass es eine Zeile gibt, die in Ihnen ein Bild hervorruft oder Sie an etwas erinnert. Und nein, Sie müssen sich dann genau nicht fragen: Ist es das richtige Bild, die richtige Assoziation? Stimmt das so? Es stimmt alles, was Ihnen zu einer einzelnen Zeile oder zum ganzen Gedicht einfällt. Es gibt nicht richtig oder falsch, es gibt nicht nur die eine Antwort, die der Deutschlehrer hören wollte.
Ich wende mich nun an jene unter Ihnen, die noch ein paar Reste von Gedichtzeilen im Kopf haben. Vielleicht ‘Es kommen härtere Tage’. Oder ‘Wer jetzt kein Haus hat’ oder ‘Lehrt eure Kinder das Füchsinneneinmaleins’. Auch beliebt: ‘Sagt Mutter, s’ist Uwe’. Unsereinem wird ja immer wieder Gedächtnistraining empfohlen. Testen Sie doch vorerst mal Ihr poetisches Gedächtnis und schauen Sie mal, wohin besagte Zeilen Sie führen. Und anstelle, dass Sie sinnlose Zahlenreihen auswendig lernen, wie wäre es, zum Beispiel das wunderbare Gedicht ‘’Frauenfunk’ auswendig zu lernen? (Kleiner Tipp: Eine Zeile davon finden Sie in diesem Abschnitt!). Und auf langen Spaziergängen, wenn es so seltsam ist, im Nebel zu wandern, können Sie dieses oder ein anderes Gedicht aufsagen und wenn Sie dabei stolpern – bitte nicht im wörtlichen Sinne, also Vorsicht bei Wurzeln und dergleichen – merkt es niemand.
Auf die Eingangsfrage einer Leserin lautet meine persönliche Antwort: Ich lese jeden Tag mindestens ein Gedicht und jetzt, im Herbst, gerne auch zwei. Denn der Herbst ist für mich durch die Bilder, die er an klaren Tagen hervorzaubert (wie jenes auf dem Bild zum Beispiel), für mich die poetischste aller Jahreszeiten.
Titelbild Ayse Yavas
Einige Gedichtanfänge fallen mir sofort ein. Wie zum Beispiel Kästners «An besonders schönen Tagen / ist der Himmel sozusagen / wie aus blauem Porzellan…». Dann und wann lese ich weiter bis zum Schluss. Und neben dem Bett liegt für schlaflosere Nächte immer ein Gedichtband. Das tut Herz und Seele gut – und hilft mir beim wieder Einschlafen. Danke liebe Frau Roth-Hunkeler für Ihre wunderbare Ermutigung!