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Aus dem Chaos zur Kunst

«Oh, Clock!» Unter diesem Titel zeigt das Kunstmuseum Bern die erste gross angelegte Einzelausstellung der US-amerikanischen Künstlerin Amy Sillman in Europa. Die in New York lebende Malerin hat die Ausstellung entscheidend mitgestaltet.

New York ist seit langem ein prickelndes Zentrum der Künste, ein Anziehungspunkt für alle, die ihr Leben ihrer eigenen Ausdrucksform widmen und sich vom Chaos der Millionenstadt vorantreiben lassen wollen.

1975 zog Amy Sillman (*1955 in Detroit, Michigan) nach New York, um, inspiriert von längeren Reisen durch Japan und die USA, Japanologie zu studieren. Seit jeher war sie fasziniert von Sprache, also belegte sie Kurse in Kalligrafie mit dem Wunsch, später Publizistin oder Übersetzerin zu werden. In diesem Umfeld entdeckte sie, wie Wort und Bild, Abstraktion und Figuration miteinander in Verbindung stehen. Daraufhin wechselte sie Ende der 1970er Jahre an die School of Visual Arts New York, um Illustration zu studieren. Gleichgesinnte fand sie schnell in der Malerei. Diese breite künstlerische Szene prägte sie in diesen Jahren.

Amy Sillman UGH for 2023 (installation view), 2023. 74 ausgewählte Zeichnungen aus UGH for 2023 (Serie von 195 Zeichnungen, Words und Torsos) Acryl und Tusche auf Papier. Je 81,3 × 55,9 cm. Foto: David Regen Courtesy of the artist und Gladstone Gallery

Seit den 1990er Jahren hinterfragt Amy Sillman ihre Kunst, ohne die Ausdruckskraft und den Schwung durch Zweifel brüchig werden zu lassen. Zu ihren Arbeiten gehören Zeichnungen, Drucke, Texte sowie Objekte und Animationen. Ihr Vorgehen ist bestimmt durch ihre Hingabe an Verfahren der Transformation, der Umkehrung, der Neugestaltung und der Überprüfung. Ihre schnellen seriellen Zeichnungen und viellagigen Malereien bewegen sich raffiniert zwischen Abstraktion und Figuration – mal sind sie vielfarbig, mal monochrom, mal zeigen sie komplexe Formen, mal Figuren oder Körperteile.

Kunst voller Lust an Malerei und Sprache

Die Illustration, ihr Ausgangspunkt, und ihre Liebe zu Sprache und Schrift sind bis heute ein integraler Teil ihrer Kunst. Sillman orientiert sich an traditionellen Formaten wie Landschaft und Porträt, an grafischen Formen wie Abstraktion oder Cartoon. Bei jedem Malprozess beobachtet sie selbst ihr Tun fasziniert, welche Formen entstehen. – Es ist ihr Experimentierfeld.

Amy Sillman, Untitled (Detail aus Frieze for Venice), 2021. 32 Zeichnungen auf Papier, 71 Zeichnungen auf Panels. Acryl, Tusche, Siebdruck, Aquarell und Bleistift auf Papier. Je ca. 152 × 106 cm / 29 × 36 cm. Courtesy of the artist und Gladstone Gallery

Die Begeisterung und Sorgfalt, mit der sie malt und über Malerei spricht und denkt, zeigt sich sowohl in ihren Texten und den vielen Lehraufträgen wie auch in ihrer Betrachtung von Kunst und in der Präsentation ihrer Werke. Seit vielen Jahren schreibt Sillman über Kunst, sowohl über ihre eigene als auch über historische Positionen. Ihre Referenzen – besonders aus der Malereigeschichte des 20. Jahrhunderts – sind so vielseitig wie ihre Arbeiten. Dazu gehören Anekdoten aus ihrem eigenen Alltag oder kunsthistorische, oft an der Praxis und an der Form interessierte Abhandlungen.


«Ich schneide immer, verunstalte, übermale, lösche, füge hinzu, kratze weg, hole zurück, setze fort und kehre um. Das Digitale hat mir ein nützliches Werkzeug an die Hand gegeben, mit dem ich in der Zeit vor- und zurück gehen kann […] nicht nur kumulativ vorwärts wie bei einer gemalten Oberfläche.» Amy Sillman


Ihre Beschäftigung mit der Malerei endet nicht mit dem Niederlegen des Pinsels. Sie schafft digitale Animationen, die, wie ihre malerischen Serien, die Entwicklung der abstrakten Formen nachzeichnen, die Dynamik des gestalterischen Prozesses wiedergeben und damit Gefühle erzeugen, die oft komische Geschichten wiedergeben.


«Wir würden sterben, wenn wir keinen Humor mehr hätten. Das wäre die totale Unterwerfung.» Amy Sillman


Amy Sillman, Song Cave, 2017. Acryl auf Leinen. 190,5 × 167,6 cm. Privatsammlung. Foto: John Berens. Courtesy of the artist and Tajan SA

Selbstbewusst reagiert Amy Sillman auf das Weltgeschehen. Wir sehen in der Serie der Election Drawings Strichfiguren, die schwarz vor einem leeren weissen Hintergrund gekrümmt am Boden liegen, mal kauernd, mal im Bett, mal übergeben sie sich. Sie zeichnet mit robusten Kohlestrichen, die wütend und entschlossen wirken. Diese 23 Graphitzeichnungen auf Papier entstanden 2016 nach dem Wahlsieg von Donald Trump. Inspiriert von Protestschildern nahm die Künstlerin die Emotionen auf, die in diesem Moment sowohl zum Handeln aufriefen und angesichts der verstörenden Tatsachen handlungsunfähig machten.

Die Künstlerin und die gesellschaftlichen Entwicklungen

Der besondere Fokus auf das Moment der Zeit in der Malerei ergibt sich aus der aufwändigen Arbeitsweise der Künstlerin: Sillman arbeitet an einem Bild, übermalt es, bis das Werk den Punkt erreicht, an dem es etwas ausdrückt und sich Bedeutung herauskristallisiert.

Gemäss ihrem Verständnis von Kunst bezieht sie Film und Poesie ein, wobei sich die Zeit komprimieren oder ausweiten lässt. Selbstverständlich ist in diesem Sinne Zeit auch im Raum greifbar. Ein Bild zu schaffen, braucht Zeit, das entstandene Werk ist «verfestigte» Zeit. Die Gesten des Zeichnens geben als Resultat die Bewegung als Schwung der Gestalten wieder.

Amy Sillman, oh, Clock, 2023. Acryl und Öl auf Leinen. 149,9 × 139,7 cm Foto: David Regen, Collection of Andrea Olshan, Courtesy of the artist

Oh, Clock!

An der Gestaltung ihrer Ausstellung im Kunstmuseum Bern hat sich Amy Sillman aktiv beteiligt: Sie hat die Räume mitgestaltet, vor allem durch markant bemalte Wände und durch eine vielfältige und überraschende Auswahl von Werken aus dem Besitz des Kunstmuseums, die ihre eigenen Bilder ergänzen. Zu vermuten ist, dass auch der Titel der Ausstellung «Oh, Clock» von der Künstlerin selbst gesetzt wurde. Hier erkennen wir ihren Sinn für die Sprache und ihren Witz: clock (Uhr, Wecker) tönt viel voller als time (Zeit), um die es der Künstlerin eigentlich in vielen Werken geht.

Amy Sillman Oh, Clock!
Die Ausstellung ist im Kunstmuseum Bern bis 2. Februar 2025 zu sehen.

Titelbild: Ausstellungsansicht Amy Sillman. Oh, Clock!, Sammlungshängung, Kunstmuseum Bern, 2024, Foto: Dominique Uldry, © Kunstmuseum Bern

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