Angie und Pat, ein gut situiertes Paar Mitte 60, wohnt seit Jahrzehnten in Pats Eigentumswohnung. Als Pat überraschend stirbt und kein Testament vorliegt, ist ihr Bruder Erbe des Nachlasses. Der Hongkonger Filmregisseur Ray Yeung schuf mit «All Shall Be Well» ein feinsinnig-tiefsinniges Drama eines Lesbenpaares und der «Familie» im modernen Kontext, das auch ohne Happy End gut endet. Ab 17. Oktober im Kino.
Der Regisseur Ray Yeung, Vorsitzender des Hong Kong Lesbian and Gay Film Festival, verarbeitet in seinen Drehbüchern gerne queere Themen. Nach «Suk Suk» über die späte Liebe zweier Männer, nähert er sich mit «All Shall Be Well» erneut mit sanftem und gleichzeitig präzisem Blick dem oft prekären Alltag älterer queerer Paare. Mit Angie, verkörpert von Patra Au, und Pat, gespielt von Lin-Lin Li, komplettiert mit adäquaten Schauspieler:innen und unterstützt von einem guten Team. An der Berlinale erhielt er für diesen warmherzigen kritischen Film den Teddy Award für den besten Spielfilm mit LGBT+-Thematik. – Der Filmtitel «All Shell Be Well» bedeutet in etwa: Es wird schon alles gut.
Beim Mondfest
Director’s Statement
«All Shall Be Well» ist eine Geschichte über die Folgen des plötzlichen Todes einer Partnerin in einer langjährigen festen Beziehung, ohne dass ein Testament hinterlassen wurde. Plötzlich tauchen viele unvorhersehbare Probleme auf. Der Film spielt in Hongkong und dreht sich um ein lesbisches Paar, aber die Geschichte könnte überall stattfinden und würde ebenso Sinn machen. Schliesslich wurden die meisten Menschen schon einmal mit dem Tod eines geliebten Familienmitglieds konfrontiert und kennen das Chaos und die Unsicherheit in der Zeit danach.
Wenn es um die Rechte der Hinterbliebenen geht, muss man zahlreiche Fragen klären, denn einerseits sollen die letzten Wünsche des geliebten Menschen respektiert werden, andererseits möchte man den Zusammenhalt der Familie wahren. Liegt kein Testament vor, sind die Hinterbliebenen oft mit einer Rechtslage konfrontiert, die sie so nicht erwartet haben, was wiederum zu Missverständnissen und Meinungsverschiedenheiten führen kann. Dabei spielen Tradition, Religion, finanzielle Verhältnisse sowie Recht und Gesetz eine Rolle; ausschlaggebend sind jedoch meist die persönlichen Geschichten der Einzelnen, und Trauer und persönliche Überzeugungen können die Konflikte noch verstärken.
Unser Film beleuchtet diese Themen aus der Perspektive einer lesbischen Beziehung, rückt speziell diese Situation in den Fokus und macht zugleich die Rechte der LGBTQ-Gemeinschaft im heutigen Hongkong deutlich. Gleichgeschlechtliche Ehen und eingetragene Partnerschaften werden in immer mehr Ländern anerkannt und legalisiert, da ist es umso wichtiger, dass Hongkong als internationale Stadt einen Film hat, der sich mit dieser Thematik auseinandersetzt. «All Shall Be Well» befasst sich mit der brisanten Frage der Rechte von Hinterbliebenen bei gleichgeschlechtlichen Paaren, mit dem Trauerprozess von Nahestehenden und wie sich ihre Gefühle, Erinnerungen und Ansprüche auf die Familiendynamik auswirken können. Unser Film stellt die Frage nach der Bedeutung des Begriffs «Familie» im modernen Kontext. Haben Blutsverwandte automatisch mehr Rechte als ein:e Lebenspartner:in? Was ist wichtiger: Eigentümer oder jahrelange persönliche Beziehungen und gemeinsame Geschichten?
Dann greift «All Shall Be Well» auch die aussergewöhnliche Lage in Hongkong auf, wo die Immobilienpreise für die meisten normalverdienenden Bürger:innen unerschwinglich sind. Wenn eine Familie von einem angemessen komfortablen Heim träumt und dieser Traum plötzlich greifbar wird, würde sie diesen Traum aufgeben oder angesichts ihres Gewissens einen Kompromiss eingehen? Jedes der im Film behandelten Themen ist von zentraler Bedeutung und kam in Filmen aus Hongkong bisher nur selten vor. Die Stadt geniesst einen guten internationalen Ruf im Weltkino, aber bisher wurden dort nur eine Handvoll Filme mit lesbischen Bezügen produziert. «All Shall Be Well» ist für mich die logische Fortsetzung meines letzten Films, der sich mit der Bedeutung von Familie und Ungleichheit in unserer Gesellschaft auseinandersetzt, wieder das Leben von unterrepräsentierten Menschen unserer Grossstadt in die Mitte rückt.
Angie nach Pats Tod
Von der Schönheit des Alltäglichen
Angie und Pat, das gut 60-jährige Paar, lebt seit mehr als 30 Jahren in Pats gemütlicher Eigentumswohnung in Hongkong. Mit ihren Verwandten pflegen sie ein offenes Verhältnis und laden Pats Familie oft zum Essen ein. Angie hat ein enges Verhältnis zu Pats älterem Bruder Shing, seiner Frau Mei und ihren erwachsenen Kindern Fanny und Victor. Zum Mondfest verbringt die Familie einen heiteren Abend am reich gedeckten Tisch von Angie und Pat. Die liebevoll Tantchen genannten Damen kredenzen der Verwandtschaft gerne ihren besten Tropfen. Was an diesem Abend, wie auch im übrigen Film, abläuft, ist gewöhnlich und alltäglich, doch die Art, wie es gezeigt wird, berührt durch Menschlichkeit und Schönheit. Beim Aufräumen nach dem Fest klapperte Angie mit dem Geschirr und fragt ihre Partnerin nach den Neuigkeiten: «Pat! Hörst du mir zu?» Aber Pat antwortet nicht. Sie ist unerwartet verstorben. Schwarzblende.
Angie ist am Boden zerstört und trauert um die Liebe ihres Lebens. Zunächst kümmert sich die Familie liebevoll um sie und zeigt Mitgefühl. Doch bald schon kommt es zu Unstimmigkeiten rund um Pats Beerdigung. Shing und Mei wollen die Urne in einem Kolumbarium aufbewahren, wie es ihnen ein Feng-Shui-Meister nahelegt. Angie hingegen möchte Pats Wunsch erfüllen und die Asche im Meer verstreuen. Auf ihre Stimme mag aber plötzlich niemand mehr hören, und Angie fühlt sich von der Familie zunehmend entfremdet und durch homophobe Anspielungen angegriffen. Als ein Anwalt eröffnet, dass Pat kein Testament unterzeichnet und Angie, die nie mit Pat juristisch verheiratet war, keinen Anspruch auf ein Erbe und die Wohnung hat, ist sie voll der Gnade Shings ausgeliefert. Umso mehr, als alle Familienmitglieder beginnen, mit ihrem Zuhause zu liebäugeln. Mit dem, was in den zahlreichen Auseinandersetzungen auftaucht, leuchtet der Film die psychischen und gesellschaftlichen Konflikte aus. Für Angie beginnt ein spätes Erwachen, ein Reifeprozess, der ihrem Leben eine neue Dimension verleiht.
Der Schluss
Human und welthaft
«All Shall Be Well» beginnt und endet langsam und leise, was auch eine ähnliche Reaktion verlangt. Diese soll uns helfen, von Szene zu Szene eigene Antworten zu finden. Das Statement des Regisseurs und die weiteren Vorbemerkungen bilden ein Gerüst für den Inhalt und das Thema des Films. Doch wie stets in der Kunst geht es um mehr: Der Inhalt umfasst alle Menschen, das Thema die ganze Welt, seine Schönheit macht seine Grösse und die Kritik seine Relevanz. Denn was der Film zeigt, ist sinnhaft, wie Kunst immer, nicht wie Kommerz, der zweckhaft ist. Mit «All Shall Be Well» lädt uns Ray Yeung von der ersten bis zur letzten Einstellung zum Verweilen und Sinnieren ein, bis Bild um Bild sich uns wie reife Früchte öffnen – und wir darin unsere Wahrheiten finden.
Regie: Ray Young, Produktion: 2023, Länge: 94 min, Verleih: trigon-film