Auch wenn wir autonom sind und unser Leben selbst bestimmen, bleiben wir verletzlich. Was folgt daraus? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Medizinethiker Giovanni Maio in seinem Buch «Ethik der Verletzlichkeit».
Wir können uns selbst optimieren und uns gegen die Unbill des Lebens wappnen. Wir können alles Nötige tun, damit wir nicht verarmen und möglichst gesund bleiben. Wir können erfüllende Beziehungen und Freundschaften pflegen. Wir können dem Leben jeden Tag einen Sinn geben und uns selbst verwirklichen.
Trotzdem bleiben wir verletzlich. Wir werden verletzlich geboren, sind auf die Hilfe der Mutter, der Hebamme usw. angewiesen. Im Laufe des Lebens sind wir nicht immer unseres Glückes Schmied. Manchmal brauchen wir Glück, beispielsweise dass wir nicht krank werden, dass wir nicht in Kriegsgebieten leben müssen und von Naturgewalten verschont werden. Unsere Sterblichkeit zeigt uns, dass es mit unserer Selbstoptimierung und unserer Selbstverwirklichung mal zu einem Ende kommt.
Giovanni Maio, Arzt, Philosoph und Professor für Medizinethik, erinnert uns in seinem Buch «Ethik der Verletzlichkeit», dass wir nicht alles beherrschen und bewältigen können und dass wir auf andere angewiesen sind. Als Arzt hat er einen sensiblen Blick auf unsere Leiblichkeit als einer besonderen Sphäre der Verletzlichkeit. Aber wir können auch verletzt werden, wenn wir nicht beachtet, gemobbt oder ausgegrenzt werden oder wenn uns ein Unglück widerfährt.
Nach Maio ist die entscheidende Antwort auf die Verletzlichkeit der Aufbau von Sorgekulturen: Wenn wir eine Kultur der Selbstsorge entwickeln, versuchen wir möglichst gesund zu bleiben, uns vor Krisen im Alltag und Beruf zu schützen und Resilienz und Widerstandskraft aufzubauen, um uns aus Krisensituationen herauszuarbeiten. Aber oft reicht Selbstsorge nicht, dann sind wir darauf angewiesen, dass andere für uns sorgen. Aus der Einsicht, dass wir in gewissen Situationen auf andere angewiesen sind, sind wir auch bereit für andere zu sorgen. Politisch setzen wir uns dafür ein, dass der Staat Rahmenbedingungen für Sorgestrukturen schafft, etwa indem er ein Gesundheitswesen schafft, zu dem alle Zugang haben oder dafür sorgt, dass Benachteiligte ein würdiges Leben führen können und die Umwelt geschützt wird.
Eine Sorgekultur im Gesundheitswesen würde bedeuten, dass verletzte Menschen nicht bloss versorgt oder bloss als Fall behandelt werden, an denen Dienstleistungen abgewickelt werden. Menschen in Alters- und Pflegeheimen sind nicht bloss von oben herab mit einer patriarchalischen, vielleicht sogar gut gemeinten Fürsorge einzudecken. Auch der kranke oder alte Mensch ist immer noch ganz Mensch, selbst wenn er hilfsbedürftig ist. Für einen sorgenden Umgang braucht es Zeit für die Beziehungspflege. Wenn professionelle Akteure im Gesundheitswesen wenig Zeit haben, sind sorgende Menschen beizuziehen, die Zeit haben, An- oder Zugehörige oder Freiwillige.
Als Medizinethiker thematisiert Maio die Ethik der Verletzlichkeit vor allem in Bezug auf das Gesundheitssystem. Aber die Einsicht, dass der Mensch in seiner Daseinsstruktur grundsätzlich verletzlich und dass er deswegen in gewissen Situationen auf andere angewiesen ist, führt zu einer Haltung der grundsätzlichen sorgenden Verbundenheit untereinander.
Man könnte meinen, absichtliche Verletzungen seien ethisch grundsätzlich zu verurteilen. Aber wir können nicht umhin zu verletzen, dadurch dass wir leben, etwa indem wir etwas essen, Raum beanspruchen usw. Umso wichtiger ist es, dass wir mit uns selbst, mit andern Menschen und mit der nichtmenschlichen belebten und nichtbelebten Natur sorgsam, behutsam, empathisch, liebevoll umgehen. So wird die Grundstruktur der Verletzlichkeit nicht bloss zu einer Gefährdung, sondern zu einer Ressource, welche uns erlaubt, «uns der Welt und anderen Menschen zuwenden zu können. Ohne diese Ressource gäbe es kein Vertrauen, keine emotionale Bindung, keine Kreativität, keine Entfaltung. Für diese Entfaltung bedarf es jedoch nicht nur eines guten Willens, sondern vor allem günstiger Entfaltungsbedingungen und immer wieder neu einer ermöglichenden Kultur der Sorge», wie Maio hervorhebt.
So gesehen ist der Krieg als organisiertes Verletzen und Töten, um sich eines «Feindes» zu bemächtigen, eine Absurdität schlechthin und es ist völlig unverständlich, warum nicht die ganze Menschheit pazifistisch ist. Der Satz «Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor», sollte demgemäss ersetzt werden durch den Satz «Wenn du Frieden willst, lebe friedlich», wozu auch der sorgende Umgang mit der eigenen Verletzlichkeit, der Verletzlichkeit der andern und der Welt gehört.
Titelbild: Screenshot aus der Sendung des SWR: Deshalb müssen wir uns Gesundheit leisten können. Ein Interview mit Prof. Dr. Giovanni Maio. Er ist Arzt, Philosoph und Universitätsprofessor für Medizinethik/Bioethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. (Foto bs)
Buch: Giovanni Maio. Ethik der Verletzlichkeit. Freiburg im Breisgau 2024. ISBN: 978-3-451-60132-3