Ein Roman macht Furore. Die Schlagzeilen über den Rezensionen lassen an Deutlichkeit nichts übrig. Die «Zeit» überschreibt ihren Artikel zum Roman mit «Sex und Text», die «NZZ» gar mit «Griff zwischen die Beine». Die beiden Überschriften werden aber in keiner Art und Weise der Geschichte gerecht. Es ist wie so oft, wenn der Versuch unternommen wird, mit einem Titel möglichst hohe Aufmerksamkeit zu erzeugen, dass das Wort Sex herhalten muss. Und Sex zieht immer. Oder ist es nur logisch, wenn zwei Männer über ein Buch einer Frau und ihre Sexualität schreiben? Verraten sei: Zwischen die Beine gegriffen hat im Buch die Frau. Geschrieben hat das Buch »Die vorletzte Frau» die deutsche Schriftstellerin Katja Oskamp (54). Die Frage stellt sich: Ist das Buch nun eine schonungslose Abrechnung (NZZ) oder eine bleibende Liebeserklärung (Zeit) an ihren langjährigen Lebenspartner, an den Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann (74). Im Buch «Tosch» genannt?
Fasziniert hat mich das Buch, weil es eine ungeahnte, zwar eine etwas verschleierte, dennoch stimmige Sicht auf die Schweiz, auf eine Schweizer Familie aus Zug eröffnet, weil darin Personen vorkommen, mit denen ich umging, in deren Leben ich Einblick hatte. Mit denen ich persönliche Beziehungen pflegte, insbesondere mit Thomas Hürlimanns Vater, aber auch mit seiner Mutter, die ich beide journalistisch während Jahren begleitet hatte. Hans Hürlimann erscheint im Buch schlicht als Schweizer Politiker, nicht mehr, nicht weniger. Erstaunlich eigentlich. In Hürlimanns Werken ist der Vater weit präsenter, wird sein Wirken fantasievoll umschrieben. Im Buch «Der grosse Kater« bereitet sich Hans Hürlimann, der Bundespräsident, auf den Besuch des spanischen Königspaares vor. Hinter den Kulissen wird von einem Gegenspieler eine Intrige angezettelt, die ihn zu Fall bringen soll. Von einem vermeintlichen Freund, dem er einst die Verlobte ausgespannt und später geheiratet hat. Am schwersten wiegt jedoch, dass ein Sohn, der Bruder von Thomas, im Sterben liegt. Und dann auch starb. Im letzten Werk «Der rote Diamant», von Kritikern als Meisterwerk Hürlimanns bezeichnet, kommt der Vater als Oberst mit seinem Adjutanten vor und ganz stark seine Mutter, die stets elegante, vortrefflich hell geschminkte, immer bestens gekleidete Dame, die mit grossrandigen Hüten alle andern Bundesrats-Gattinnen ausstach. Eine vordergründig distanzierte, doch nicht minder prägende Frau. Die im Buch zu charmieren weiss, wenn sie Klein-Thomas ins Gymnasium in den Bergen fährt, dabei im Schnee stecken bleibt und den Helfer umgarnt.
Während 19 Jahren waren sie ein Paar, Katja Oskamp und Thomas Hürlimann. Und jetzt hat sie «ihre wilde Liebe» (Zeit) mit Thomas Hürlimann aufbereitet. Und Thomas Hürlimann, der sie als Dozent zum Schreiben brachte, der alle ihre Texte las, sie redigierte, optimierte, sie immer weiter zum Schreiben anspornte, las auf ihren Wunsch auch dieses Buch. Und weil der Verleger sich wegen des Inhalts sorgte, zerstreute Hürlimann alle Bedenken. Er schrieb ihr: «Ich habe gegen Dein Buch keine Einwände. Im Gegenteil. Es ist eine wunderbare Liebesgeschichte und ich freue mich, dass ich mitspielen darf.»
Und wie er mitspielte. Wie sie ihm schon beim ersten Ausgang in den Schritt fasste, wie er bei ihr einzog, sie ihm ein Stehpult beschaffte, weil er immerzu schrieb. Wie sie wilde Nächte miteinander verbrachten. Wie er ein so enges Verhältnis zu ihrer Tochter entwickelte, so dass er sich mit ihr gegen die Mutter, seine Geliebte verbündete. Wie sie sich zur Fusspflegerin ausbilden liess, um neben dem Schreiben ein Einkommen zu generieren. Wie er ihr ein dickes Couvert überreichte, ohne den Inhalt zu zählen, welches ein stattliches Honorar enthielt. Wie sie ihn pflegte, als er immer kränker wurde. Wie er sich von ihr mustern liess, als er die Ehrendoktorwürde der Universität Basel erhielt. Er wollte nicht wissen, ob die Krawatte richtig gebunden war, sondern, ob die Windeln, die er trug, tatsächlich nicht zu bemerken waren. Aber auch: Wie sie jeweils die Sommerzeit in Morschach verbrachten. Die beiden Frauen wacker auf dem Bauernhof, wo sie logierten, mithalfen. Wie er sie als Putzteufel hänselte und meinte: «Du musst nicht die ganze Innerschweiz putzen.»
Als er noch kränker wurde, über Basel bei seiner Schwester in die Heimat zurückfand, in ein umgebautes Bootshaus der Familie zog, sie ihn noch einmal begleitete, ihn dabei pflegte, entfernten sich die beiden. Er fand eine neue Liebe. Sie blieb die vorletzte Frau.
Katja Oskamp, Die vorletzte Frau, erschienen im Verlag park x ullstein, ISBN/GTIN978-3-98816-020-1
Nicht die Person Thomas Hürlimann an sich hat mich neugierig auf das Buch «Die vorletzte Frau» von Katja Oskamp gemacht, sondern die Lebens- und Liebesgeschichte der beiden. Grandios erzählt Katja Oskamp ohne falsche Scham von der Kraft aufrichtiger Liebe und Zugewandtheit in einer voller Leidenschaft gelebten Beziehung und einer damals so lebendigen Zeit. Besten Dank für diesen Buchtipp!