Sie hat jahrelang mit ihm zusammengearbeitet, er hat gemalt, sie gewebt. Er ist einer der berühmtesten Künstler, nun bekommt sie im Bündner Kunstmuseum Chur eine grosse Ausstellung: «Lise Gujer. Eine neue Art zu malen».
Die expressionistische Malerei von Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) vor allem der Davoser Zeit hat Lise Gujer am Webstuhl zu Wandeppichen gestaltet. «Eine neue Art zu malen,» äussert Kirchner über die Art und Weise, wie Gujer seine Bilder mit Leinen und Wolle umsetzte, während sie schliesst: «Weben ist Leben.»
Ernst Ludwig Kirchner: Porträt Lise Gujer, 1927. Holzschnitt. Nachlass Eberhard W. Kornfeld
Sowohl Kirchner als auch Gujer haben Davos als Ort der Heilung aufgesucht. Lise Gujer ist sechzehnjährig wegen Asthma erstmals in Clavadel zur Kur. Kirchner, gezeichnet vom 1. Weltkrieg und morphinsüchtig, sucht ab 1917 Heilung in dem Kurort.
1922 lernt Lise Gujer (1893-1967) den Künstler im kulturell anregenden Davoser Freundeskreis kennen, in dem unter anderen der Schriftsteller Paul Eluard, die Tänzerin Nina Hard oder Albertine Platten, die Schwester des Arbeiterführers Fritz Platten, verkehren. Mittlerweile ist sie vom Kurgast zur Pflegerin betuchter Gäste geworden und hat ein Bauernhaus gemietet. Dort entdeckt sie einen alten Webstuhl in gutem Zustand.
Ausstellungsansicht mit Gujers Webstuhl und dem Teppich Alpaufzug, 1926
Sogleich versucht sie sich an Tischdecken und wird immer besser an dem Gerät. Die aus einer wohlhabenden Zürcher Familie stammende Lise Gujer baut zu Kirchner und seiner Partnerin Erna Schilling bald eine enge Beziehung auf. Es beginnt eine fruchtbare Zeit der Freundschaft und Zusammenarbeit des Malers mit der Textilkünstlerin bis zu dessen Freitod.
Möglich ist, dass ein Treppensturz mit Fussbruch, von dem sich Lise Gujer nie mehr erholt, die lebhafte und weltläufige Frau zum kürzer treten und damit zur Könnerin am Webstuhl bringt. Ihre lange Südamerikareise von 1915 ist passé, sie bleibt in Davos, bis sie 1967 einer Krebskrankheit erliegt.
Saalaufnahme mit Tänzerinnen-Teppichen, inszeniert von Kueng Caputo.
Das Haus Gruoba im Sertigtal wird nach Kirchners Tod eine Gedenkstätte, mit Möbeln, Objekten und Bildern, die Lise Gujer als Geschenk bekommen hat und aus dem Nachlass von Erna Schilling erwerben kann. Ihr bleiben auch Kirchners Tagebuch, dessen Herausgabe sie nach dessen Tod fördert. Und sie unterstützt Eberhard W. Kornfeld, das Haus auf dem Wildboden, wo Kirchners Wohnsitz war, als weitere Gedenkstätte einzurichten.
Ernst Ludwig Kirchner/Lise Gujer: Das Leben, 1927. Arbeitsunterlage mit Zeichnung, Farbbeschriftungen und eingezogenen Wollfäden auf Transparentpapier. Bündner Kunstmuseum Chur
Schon todkrank steckt sie alle Entwürfe, Vorlagen, Schablonen und Skizzen Kirchners für Bildteppiche in ein versiegeltes Paket, das nach ihrem Tod mit der Auflage, es erst dreissig Jahre nach ihrem Tod «zur Vermeidung von Nachschöpfungen» zu öffnen, ans Rätische Museum geht. Nach 1997 gelangt der Inhalt ins Bündner Kunstmuseum und nun an die Öffentlichkeit, die in dieser aussergewöhnlich reichen Ausstellung viel mehr als die Wandteppiche von Lise Gujer nach Vorlagen von Ernst Ludwig Kirchner zu sehen bekommt, sondern auch Hintergründe zur Zusammenarbeit des Kunstmalers mit einer herausragenden, eigenständigen Textilkünstlerin, die ihre Wissen und Können als Autodidaktin erarbeitet hat. Erst noch ist viel über die Art und Weise zu erfahren, wie sie mit Kirchner gearbeitet hat.
Saalaufnahme mit Alpaufzug und Lebensalter 1927-1928. Privatbesitz. Links und rechts Bauernpaar.
Rund zwanzig Arbeiten entstehen bis zu Kirchners Tod. Nach einer längeren Pause hat Gujer in den 50er und 60er Jahren erneut Bildteppiche nach jenen Entwürfen gemacht, die bei ihr geblieben sind. Und sie hat Erfolg damit.
Rückseite (Detail) des Bildteppichs Alpaufzug mit Lebensalter
Die allerersten Webereien waren dem Auftraggeber Kirchner zu blass, der Leinenzettel zu stark sichtbar. Aber die Autodidaktin forscht und probiert, bis sie im so genannten Wirken eine adäquate Technik findet: Das fast dreidimensionale Werk mit homogenen Flächen – textile Malerei – entsteht. Diese Teppiche entsprechen nun dem Farbenreichtum des Expressionisten Kirchner. Wie genau diese Wirkerei geht, zeigt ein Blick auf die Rückseite jener Bildteppiche die frei im Raum hängen: Ein Chaos von Fäden erlaubt den Blick auf die Technik.
Der Hirte, 1928-1929. Links die Wirkerei von Lise Gujer, Privatsammlung; rechts die Arbeitsunterlage von Kirchner und Gujer aus derselben Zeit.
Zweimal gibt es die Arbeit Menschen in der Landschaft, die blasse Ausführung 1923 und die neue Fassung aus den 50er/60er Jahren. Der Entwurf von 1923, gemalt auf verschiedenen Bögen und zusammenkaschiert sowie mit Wollfäden Gujers ergänzt ist nicht in allen Teilen die Vorlage. Aber diese Entwürfe zwischen Malerei und Teppich erhellen die wichtigste Phase der Kooperation.
Lise Gujer hat keinen Teppich deckungsgleich produziert und hat die Vorgaben von Kirchner nicht hundertprozentig ausgeführt. Als Beispiel seien der Schwarze Frühling genannt. In der Ausstellung ist das Ölbild von 1923 zwei sehr ähnlichen, aber nicht identischen Wirkereien Gujers aus den 50er-60er Jahren gegenübergestellt.
Der Blumenteppich, links der Entwurf von Kirchner, 1938, rechts eine der von Gujer realisierten Fassungen (Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach)
Etliche Bildteppiche sind in mehreren Fassungen präsent. Lise Gujer hat ihre eigene reiche Farbpalette – wenn das bei Wollfäden überhaupt so gesagt werden kann –, sowie vertiefte Kenntnisse von Pflanzen und kann einen Blumenteppich nach dem Entwurf Kirchners von 1938 in verschiedenen Stimmungen und Grössen realisieren.
Alpaufzug, 1926 mit Arbeitsunterlagen von Kirchner und Gujer (links) und dem Bildteppich (rechts). Museum für Gestaltung, Zürich.
Die Möglichkeit Ölgemälde, Entwürfe und Teppiche zu betrachten und miteinander zu vergleichen, macht diese Ausstellung zur grossartigen Präsentation. Endlich bekommt die Meisterin des Textilen die Anerkennung als Künstlerin, die ihr gebührt. Sie hat wohl gewusst, dass sie mehr als eine Ausführende sei, manche der Teppiche sind mit LG signiert, was auch Kirchner richtig fand.
Ausstellungsansicht: Dreimal Tänzerinnen auf Wandteppichen.
Kirchner suchte seine Motive jeweils dort, wo er lebte, einst das Treiben in der Metropole, nun in Davos das Land und die Berge, also bevölkern die Gemälde und Teppiche Bauernpaare, Hirten, Tänzerinnen und Tiere. Sein Anliegen ging über die Malerei von Bilder für Wände und Plastiken für Sockel hinaus, er wollte auch ein für die Gesellschaft relevanter Innenarchitekt sein, produzierte Möbel und andere Gebrauchsgegenstände, seine Partnerin Erna bestickte Kissen, Lise produzierte Wandbehänge.
Die Ausstellung, eine eindrückliche Inszenierung der Gestalterinnen Kueng Caputo, ist noch bis Mitte November im Bündner Kunstmuseum zu sehen, aber wer sie dort verpasst, muss einfach eine Berlinreise planen, denn das Brücke-Museum übernimmt sie und zeigt sie vom 17. Dezember 2024 bis 16. März 2025.
Titelbild: Albaufzug und Lebensalter (Ausschnitt) 1927-1928. Privatbesitz
Sämtliche Arbeitsunterlagen von Ernst Ludwig Kirchner und Lise Gujer sind in der Sammlung des Bündner Kunstmuseums
Fotos: Bündner Kunstmuseum und ec/rh
Bis 17. November
Informationen für Ihren Besuch der Ausstellung «Lise Gujer. Eine neue Art zu malen»