Die Ausstellung «Ragamala – Bilder für alle Sinne» im Zürcher Museum Rietberg widmet sich einem Juwel der indischen Miniaturmalerei: den Ragamala-Bildern. In dieser besonderen Kunstform verbinden sich Musik, Dichtung und Malerei zu einem Erlebnis für alle Sinne.
Ragamala-Bilder waren vom 15. bis zum 19. Jahrhundert an den Königshöfen Indiens eine beliebte Kunstform. Mehr als 150 Serien meist unbekannter Künstler sind heute noch bekannt. Die Bilder thematisieren Gefühle der Liebe in all ihren Schattierungen – Hingabe, Verlangen, Romantik und Melancholie. Nach der Unabhängigkeit und Teilung Indiens verloren die Maler ihre fürstlichen Auftraggeber. Heute stellen sie vorwiegend Kopien für Touristen her. Die Schau präsentiert 50 Ragamala-Bilder aus der museumseigenen Sammlung in Verbindung mit Klängen, Gedichten und Düften.
Ragamala. Filmstill
Indiens Königshöfe waren bedeutende Kunstzentren, die Herrscher nicht nur hochgebildete Kunstkenner, sondern auch angesehene Dichter und Musiker. Im 15. Jahrhundert schufen Maler erstmals Bilder, die Musik in Form menschlicher Figuren darstellten. Sie stützten sich dabei auf Verse, die musikalische Stimmungen als menschliche Charaktere beschrieben und malten Frauen und Männer, die sich begehren, lieben, leiden, trauern, die tapfer und mutig sind. Jedes Bild erzählt eine Geschichte. Diese Bilder wurden in den herrschaftlichen Gemächern gemeinsam mit ausgewählten Gästen betrachtet, umgeben von gutem Essen, Getränken, Düften und Musik.
Der Raja, Wasserpfeife rauchend, betrachtet ein Bild mit dem hinter ihm stehenden Maler, 1745-1750. Maler: Nainsukh von Guler (um 1710-1778)
Ragamala heisst übersetzt «Girlande von Melodien». In der klassischen indischen Musik ist Raga eine melodische Grundstruktur, eine Reihe festgelegter Töne, aus denen sich die Klangfarbe einer Melodie entwickelt. Innerhalb der vorgegebenen Regeln sind auch Improvisationen möglich. Im Sanskrit bedeutet Raga auch «färben». Eine gelungene Raga-Darbietung «färbt die Herzen», erzeugt Emotionen bei den Zuhörenden. In der Schau können zu den Bildern passende Melodien über den QR-Code mit dem Handy gehört werden.
Langhalslaute «Sarasvati Vina», Indien 20. Jahrhundert.
Vermutlich ab dem 8. Jahrhundert begannen Dichter und Gelehrte Gefühle, die in der Musik ausgedrückt werden, in Worte zu fassen. In ihren Versen stellten sie sich Musik als Menschen vor. So wurden aus Ragas leidenschaftliche Frauen und empfindsame Männer, die lieben, leiden, trauern und voller Sehnsucht sind. Diese bildhafte Sprache war die Grundlage der Ragamala-Malerei. Die Verse wurden auf die Rückseite eines Bildes oder am oberen Bildrand notiert und boten den Betrachtenden einen direkten Bezug zum Thema.
Das Gedicht zum Bild: «Die Nacht wurde schon zum Tag. Ich dachte nur an dich. Ich wanderte umher, ich suchte dich, meine Musik lockte diese Gazellen an. Wird sie dich näher bringen? Ich frag’ es mich!». Kishan, Todi Ragini, Hyderabad, 1775-1800. Foto: © Museum Rietberg
Die Darstellung von Musikdarbietungen, auch von Klängen der Natur, fügt den Bildern eine weitere Bedeutungsebene und sinnliche Komponente hinzu. Das Seiteninstrument in der Hand eines jungen Sängers vor dem Hintergrund rauschender Bäume erzeugt eine melancholische Stimmung. Heraufziehende dunkle Wolken und ein gurgelnder Bach erinnern an die Regenzeit, Zimbeln und Schlaginstrumente an religiöse Zeremonien. Der Ruf des Pfaus «pia-pia», was auf Hindi «Geliebter» bedeutet, verstärkt die romantische Wirkung.
Auf der Terrasse des Palastes sitzt der König auf einer Schaukel, fünf Frauen tanzen und singen um ihn herum. Im Hintergrund der Garten mit Vögeln, der Himmel ist dunkel, ein Gewitter zieht auf. Hindola Raga, Bundi Werkstatt, 1770-1790.
Eine besonders beliebte Form des Raga ist «Hindola». Das Wort bedeutet in Sanskrit «Schaukel». Auf den Hindola-Bildern sitzt der König auf einer Schaukel, junge Frauen singen und tanzen um ihn herum und begrüssen den Frühling. Auch im entsprechenden Musikstück schwingen die Tonfolgen melodisch. Diese Art indischer Musik ist bei uns nicht zuletzt durch Bollywood-Filme bekannt geworden.
Einige Ragamala-Bilder verweisen auf Düfte und sind nach Blumen oder Gewächsen benannt. Für diese Schau wurden extra passende Dürfte aufgrund der abgebildeten Pflanzen kreiert, damit sich die Bilder nicht nur sehen und hören, sondern auch mit dem Geruchsinn erleben lassen. So lässt sich der starke Blütenduft des Frangipani-Baums einatmen, der dem Champaka Raga den Namen gab.
Unter dem duftenden Frangipani-Baum sitzen ein König und seine Freunde auf einem Teppich und geniessen die Schönheit des Gartens. In ihren Händen halten sie Lotosblüten. Champaka Raga, Dekkan Werkstatt, um 1660. Foto: © Museum Rietberg
In einem Abschnitt der Ausstellung werden die Materialien und die Maltechnik der traditionellen Miniaturmalerei vorgestellt: Die Maler sitzen in einer vorgeschriebenen Haltung auf dem Boden, ein kleines Malbrett auf den angewinkelten Beinen. Ihre Ragamala-Bilder auf Papier malen sie mit selbst hergestellten Farbmischungen aus pulverisierten Pigmenten und Gummiarabikum. Die Farbe wird mit feinem Pinsel in mehreren Schichten aufgetragen und teilweise mit einem Achatstein auf der Vorder- und Rückseite des Papiers leicht poliert. Das Polieren fixiert die Pigmente und verleiht der Oberfläche Gleichmässigkeit und Glanz. Die Herstellung eines Bildes war ein langwieriger Prozess und konnte viele Monate in Anspruch nehmen.
Material für die Pigment-Malerei auf Papier: Mineralien, Pigmente, Muschelschalen für die Farben, Blattgold, Achat zum Polieren, Pinsel, Papier und Malkasten.
Das Museum Rietberg lud für die aktuelle Ausstellung zwei der bedeutendsten zeitgenössischen Miniaturmaler aus Indien und Pakistan ein, die ein Raga in eine zeitgenössische Bildsprache umsetzten. Kurzfilme dokumentieren, wie sie in traditioneller Art die Bilder vorbereiten und mit feinsten Pinseln minutiös malen.
Fotos: rv und © Museum Rietberg, Zürich
Bis 19. Januar 2025
«Ragamala. Ausstellung für alle Sinne», Begleitprogramm mit verschiedenen Konzerten, im Museum Rietberg, Zürich
Begleitpublikation auf Deutsch/Englisch, CHF 35.00