Martine kommt aus Sainte-Croix im Waadtländer Jura und lebt seit über sechzig Jahren im Limmattal. Seniorweb hat sie besucht und mit ihr über ihre Erfahrungen als Welsche in der Deutschschweiz gesprochen.
Martine (83) ist in Sainte-Croix im Waadtländer Jura auf über 1000 Meter über Meer aufgewachsen. Nach der Kaufmännischen Lehre bei Paillard, die Bolex Kameras, aber auch Hermes Schreibmaschinen herstellt, zog sie 19jährig nach Zürich, um Deutsch zu lernen. Hier fand sie eine Stelle im Büro einer Versicherungsgesellschaft und wohnte in einem möblierten Zimmer in Untermiete.
Sainte-Croix/VD liegt auf 1094 Meter über Meer und ist für die Produktion von Musik-Spieldosen, Bolex-Kameras oder Hermes-Schreibmaschinen bekannt. Yverdon-les-Bains ist die nächstgelegene grössere Stadt.
Als junge Frau besuchte Martine bis zur Volljährigkeit, damals 20 Jahre, während einem halben Jahr am Montagnachmittag die «Rüebli-RS», die obligatorische Hauswirtschaftsschule. Nicht nur kochen, waschen und putzen lernte sie, auch in Staatskunde wurde sie eingeführt. Und ganz neu lernte sie «Spätzli» zubereiten.
In der Zürcher Eglise réformée française begegnete sie Pierre, ihrem zukünftigen Mann. Er war Elektroingenieur und kam aus Frankreich. Als Kind von Schweizer Eltern hatte er, in Frankreich geboren, automatisch das französische Bürgerrecht und war somit Doppelbürger. Um nicht in den Militärdienst nach Algerien geschickt zu werden, schlug Pierre das französische Bürgerrecht aus. Als Folge bekam er in seinem Beruf keine Arbeit mehr. Doch die BBC (BrownBoveri) in Baden nahm ihn gerne auf, auch wenn er zuerst die Rekrutenschule absolvieren musste.
Martine und ihr Mann Pierre
Martine und Pierre heirateten und bekamen Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Sie lebten in der Limmattaler Gemeinde Dietikon, wo anfangs der 1960er Jahre viele Wohnungen und Schulhäuser gebaut wurden. Mit den kleinen Kindern fand Martine auf dem Spielplatz Kontakte mit anderen Müttern. Inzwischen sprach sie nicht mehr nur Hochdeutsch, sondern auch Dialekt. Als Welsche war es damals nicht so einfach, gleichwertig aufgenommen zu werden, oft fühlte sie sich ausgegrenzt. Ihre dreijährige Tochter lernte auf dem Spielplatz als erstes deutsches Wort «Bösi». Da die anderen Kinder sie nicht verstanden, nannten sie sie eine «Böse». Die Bemerkung einer Bekannten «wir als echte Schweizer» Martine gegenüber war verletzend, als Romande ist sie genauso Schweizerin. Trotzdem, für Martine ist es wichtig, offenzubleiben.
Als die Kinder etwa 13-/14-jährig waren, begann sie in einem Büro in der Nähe als Buchhalterin zu arbeiten. Anfänglich mit alten Ruf-Buchhaltungsmaschinen, später mit Computerprogrammen. Gespräche mit französischsprachigen Kunden schätzte sie besonders, auch französische Korrespondenz.
Sie engagierte sich in der Eglise française, der welschen Landeskirche in Zürich, und war Mitglied der Fédération des femmes protestantes. Sie gehörte zur Vorbereitungsgruppe der jährlichen Tagung in Vaumarcus im Kanton Neuenburg, die jeweils von Freitag bis Sonntag dauerte. Hier leitete sie Gesprächsgruppen und Diskussionsrunden.
Über die Französische Kirche kam sie auch in Kontakt mit der Fédération romande des consommateurs, die 1959 zum Schutz der Konsumentinnen und Konsumenten gegründet wurde. Während über dreissig Jahren war sie Mitglied, zeitweise auch im Vorstand aktiv. Als Vertreterin der Deutschschweiz beteiligte sie sich an Warentests, verglich Preise und Qualität und nahm regelmässig an Betriebsbesichtigungen und Vorträgen teil.
Martine nimmt bis heute aktiv am gesellschaftlichen Leben teil. Die Zusammenarbeit mit welschen Kolleginnen und Kollegen bedeutet für sie ein Stück Heimat. Aber genauso engagiert sie sich in ihrer nächsten Umgebung. Sie ist seit über fünfunddreissig Jahren Mitglied der Trachtengruppe Dietikon, früher Trachtenverein Limmattal, der Dietikon, Weiningen, Schlieren und Albisrieden umfasste. Sie hätte sich eine Waadtländer Tracht nähen können, fühlt sich aber hier so zu Hause, dass sie bei ihrer «Dietiker Festtagstracht» bleibt. Noch heute tanzt sie in der Trachtengruppe.
Auf die Frage, ob sie nie daran dachte, nach Sainte-Croix, Lausanne oder Neuenburg zurückzukehren, meinte sie: «Mein Mann hat immer in Frankreich, nie in der Romandie gelebt. Er liebte die Arbeit hier, also gab es keinen Grund wegzuziehen. Obwohl, Neuenburg hätte mir schon auch gefallen.»
Seit 1996 wohnt sie in einer Eigentumswohnung in Spreitenbach. «Der Wechsel von ZH auf AG war nicht so einfach. Doch wir haben uns gut eingelebt und es gefällt mir hier.» Martine arbeitete während elf Jahren auf dem Sekretariat der reformierten Kirche in Spreitenbach und war auch Mitglied der Kirchenpflege. Sie war zuständig für die Katechetinnen und initiierte mit diesen zusammen die ökumenische Frauengruppe Prisma, die sich noch heute einmal im Monat abends im Kirchenzentrum trifft und sich über Lebensthemen, philosophische Fragen, Reiseerfahrungen austauscht, auch einmal gemeinsam eine Ausstellung besucht. Es ist eine lose Gruppe, manchmal kommen vier, manchmal zehn Frauen. Anfänglich waren alle verheiratet, mittlerweile sind fast alle Witwen geworden. Auch Martines Mann, Pierre, starb vor sechs Jahren. Für Martine ein grosser Verlust und doch engagiert sie sich weiter, geht nach wie vor auf Reisen, sei es zusammen mit ihrer Tochter oder mit einer Kollegin.
Unterwegs in Lausanne
Am Schluss erzählt Martine, dass sie «Pfadiführerin» war. «Die Erfahrungen bei den Pfadfindern in der Kinder- und Jugendzeit prägen das ganze Leben», meint sie, «die meisten ehemaligen Pfadis fühlen sich verantwortlich und engagieren sich später als Erwachsene in der Gesellschaft.»
Ein erfolgreiches Leben, wie viele andere. Vielleicht ein Bericht über die Rückseite der Münze? Das Welschlandjahr!
Unzählige billige Arbeitskräfte im Kindesalter, les Suisses alemande, in der Romandie. Ich bin 83 Jahre alt wie diese Frau, nach der zweiten Sek ging ich als 13 jährige allein ins Welschland um ausgenützt zu werden. Der „freie“ Halbtag war Komfirmandenuntericht für Deutschschweizer im iBezirksstädtchen, eine Velostunde weg. Keine Ferien, kein Besuch nach Hause. Weihnachtessen in der Küche, nicht im Salon. Für die Welschen waren wir Deutschschweizer nur zweitklassig! Röstigraben! Die Welschen schickten Ihre Kinder nie in die Deutsche Schweiz um Deutsch zu lernen. Diese Martine war 19 Jahre alt, mit 19 Jahren hatte ich auch einen Beruf und mietete ein Zimmer. Mit 21 Jahren ging ich nach Schweden ohne schwedische oder englische Sprachkenntnisse, arbeitete im Beruf und mietete ein Zimmer. Mit 23 Jahren ging ich nach Amerika, arbeitete im Beruf und mietete eine Wohnung. Heiratete, hatte Kinder, kaufte grosses Haus. Da ich einmal eine domestic war, habe ich nie in meinem Leben eine Putzfrau oder Haushalthilfe angestellt.
Als Gleichaltrige hat mir diese Zuschrift sehr gefallen. Meine Schwester ist umgekehrt ins Welschland gegangen, aber mit 20 und schon ausgebildete KV-Angestellte. Sie lernte in Lausanne einen netten Mann kennen, mit dem sie 60 Jahre verheiratet ist. Wir telefonieren auf Dialekt, manchmal fehlt darin ein Wort, das sie auf Französisch sagt.