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Marina Abramović – Die Tabubrecherin

Das Kunsthaus Zürich zeigt die erste grosse Retrospektive der Performance-Künstlerin Marina Abramović in der Schweiz. Die Ausstellung umfasst Werke aus allen Schaffensperioden, re-inszeniert historische Performances live und lädt das Publikum ein, selbst aktiv zu werden.

Die umfassende Rückschau gibt Einblick in Marina Abramovićs Schaffensperioden der letzten 55 Jahre mit Video, Fotografie und Skulptur. Zudem werden ikonische Performances live reinszeniert. Die Ausstellung, kuratiert von Mirjam Varadinis, ist eine alle Sinne ansprechende Erfahrung und lädt die Besuchenden ein, sich selbst einzubringen.


«Nude with Skeleton», 2002/2005, Performance für Video 16 Minuten, Belgrad. Die Performances zeigen die enorme Durchhaltekraft der Künstlerin, verbunden mit Schmerz, bis mitunter an die Grenze von Leben und Tod.

Als Performance-Künstlerin lotet Marina Abramović (1946) die Schmerzgrenze aus und fordert damit sich selbst und das Publikum schon beim Eintritt in den Ausstellungssaal heraus. Im Türeingang stehen sich eine nackte Frau und ein nackter Mann gegenüber und die Besucherin muss sich zwischen ihnen vorsichtig durchhangeln, mit der Entscheidung, sich dem Mann oder der Frau zuzuwenden. Eine ungewöhnliche Erfahrung, die etwas Mut erfordert. «Ich versuche,» sagt Abramović in einem Interview, «mit meiner Arbeit sämtliche Tabus zu brechen.» Dennoch akzeptiert sie im Kunsthaus Zürich einen zusätzlichen «normalen» Nebeneingang als Kompromiss.

«Imponderabilia» im Kunsthaus Zürich, eine reinszenierte live Performance, die Marina Abramović 1977 erstmals in Bologna zusammen mit ihrem damaligen Lebenspartner Ulay (1943-2020) performte.

Imponderabilia, der performte Durchgang ist für die Künstlerin eine Metapher: Für sie sind Kunstschaffende die Grundpfeiler des Museums. Der Eintritt durch diese Türöffnung bringt den Besuchenden eine neue Erfahrung in eine neue Welt, nämlich die der Kunst. Diese Erfahrung ist auf vielen Ebenen imponderabel, nicht einschätzbar, und individuell verschieden, jedoch eine starke Begegnung, so die Künstlerin.

Das Ende ihrer persönlichen Beziehung performten Marina und Ulay in «The Lovers, The Great Wall Walk», indem sie zwischen März und Juni 1988 auf der Grossen Chinesischen Mauer einander entgegen wanderten und sich nach dem Aufeinandertreffen endgültig trennten.

Marina Abramović ist bekannt für ihre Long-durational Performances, kräftezehrende und zeitintensive Auftritte, in denen sie Grenzen von Körper und Geist erforscht und das Publikum dazu miteinlädt. Berühmt sind die Rhythm-Performances, in denen sie ihren Körper Extremsituationen aussetzt und mit unterschiedlichen Formen des Kontrollverlustes experimentiert.

«Rhythm», Video und Tisch mit 72 ausgelegten Gegenstände wie Messer, Säge, Ketten, aber auch Trauben, Brot, ein Apfel oder eine Flöte.

In Rhythm 0 stellte die Künstlerin 1974 erstmals auf einem Tisch 72 Gegenstände bereit und forderte die Besuchenden auf, damit mit ihr zu interagieren, sie selbst übernahm die Verantwortung. Sie liess sich wie eine leblose Puppe vom Publikum manipulieren, liess sich verletzen bis ein Mann die bereitgestellte Pistole mit einer Kugel lud, sie in ihre Hand drückte und auf sie richtete. Als sie am Ende der Performance wieder anfing, sich wie ein Mensch zu bewegen und den Menschen in die Augen schaute, rannten viele weg, erschreckt über ihre eigenen Taten. «Das Publikum ist mein Spiegel und ich bin der Spiegel des Publikums», so Abramović.

«The Artist is Present». Installation zur Performance von 2010 im Museum of Modern Art in New York.

Die bekannteste Performance The Artist is Present im Museum of Modern Art in New York inszenierte Abramović 2010 in einem stummen Dialog mit sich und dem Publikum. Sie sass auf einem Stuhl, vor sich ein Tisch, ihr gegenüber auf einem zweiten Stuhl konnte sich jemand aus dem Publikum hinsetzen. Ohne Worte, nur mit Blickkontakt. Diese stumme Begegnung rief intensive emotionale Reaktionen hervor. Viele weinten. Mit einem so direkten Blickkontakt – mit den Augen als Fenster zur Seele – als Person wahrgenommen zu werden, war für viele ungewohnt und sehr berührend.

«The Artist is Present», 2010, Performance, 3 Monate, The Museum of Modern Art, New York. Foto: Marco Anelli, © Courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024. ProLitteris, Zürich

Während der dreimonatigen Ausstellungsdauer von The Artist is Present nahmen 1545 Personen an der Performance teil. Während zehn Stunden am Tag schaute Marina Abramović den Menschen in die Augen. Dies sei für sie selbst die anspruchsvollste und schmerzvollste Performance gewesen: «Schmerz ist das Tor zu den Geheimnissen. Man muss einfach bis zum Ende gehen. Danach hört der Schmerz auf zu existieren.»

«Portal», 2022. Selenit, Stahl, Aluminium, LED. Das hell erleuchtete Portal hat eine starke Strahlkraft.

Im zweiten Teil der Schau zeigt die Künstlerin aktuelle Arbeiten. Objekte, die nicht nur eine materielle, sondern auch eine mentale Strahlkraft haben. So stehen mit Shoes for Departure Schuhe aus Quarzkristall bereit, in die man barfuss hineinschlüpfen und mit geschlossenen Augen nachspüren kann, wie sich die Energie von den Füssen her ausbreitet. Manche spüren ein feines Kribbeln und entspannen sich, manche spüren gar nichts. Ebenso gibt es bei Red und Green Dragon von 1989 aus oxidiertem Kupfer und Rosenquarz die Möglichkeit, sich auf den Kupfersockel zu setzen bzw. zu legen, mit dem Kopf auf dem Mineralkissen, bis sich die Energie vom Rosenquarz überträgt. Anleitungen für das Publikum hängen an der Wand.

«Shoes for Departure», 1991/2015. Quarzkristalle. Barfuss reinschlüpfen, die Augen schliessen und ohne Bewegung nachspüren, was im Inneren geschieht.

Unter einem auf drei hohen Eisenstangen befestigten Gebilde ist eine grosse Amethyst-Geode eingefügt. Unter diesem Inner Sky von 1991/2015 lässt sich nachspüren, wie der violette Amethyst nach unten strahlt. Mit den sogenannten Transitory Objects, die Abramović seit den 1990er Jahren realisiert, geht es der Künstlerin um das Thema «Heilung»: eine Selbsterfahrung für die Besuchenden, Werkzeuge zur Achtsamkeit und Entschleunigung.

Marina Abramović anlässlich des Einführungsgesprächs im Kunsthaus Zürich.

Die Performances werden heute nicht mehr von Marina Abramović selber ausgeführt, sondern von Performerinnen und Performern vor Ort. Im Gespräch anlässlich der Einführung in Zürich betont sie, wie wichtig ihr das Weitergeben ihres Wissens an eine neue Generation ist.

Titelbild: Marina Abramović, «The Hero», 2001. Ein Schwarz-Weiss Video, das nach dem Tod des Vaters, eines jugoslawischen Nationalhelden, entstand. Foto: © Courtesy of the Marina Abramović Archives / 2024. ProLitteris, Zürich.
Fotos:
© René + Elisabeth Bühler, 2024

Bis 16. Februar 2025
«Marina Abramovi
ć. Retrospektive» im Kunsthaus Zürich. Live-Performances finden in der Ausstellung täglich statt, zudem gibt es ein vielfältiges Rahmenprogramm. Weitere Informationen finden Sie hier.
Begleitpublikation in Englisch und Deutsch mit verschiedenen Essays und Abbildungen, CHF 49.00

 

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5 Kommentare

  1. Ich verstehe diese «Kunst» nicht. Für mich ist sie viel zu weit vom Alltag, von den «gewöhnlichen» Menschen, also eine Kunst für eine Elite, die ich auch nicht verstehen muss oder will.

    • Liebe Frau Mosimann, versuchen Sie doch einfach, das, was da gezeigt wird, bloss zu betrachten. Jenseits von Gefallen oder Nichtgefallen. Ohne es verstehen zu wollen, zu analysieren, nach einem Sinn zu suchen usw. Nehmen Sie sich etwas Zeit. Lassen Sie die Eindrücke auf sich wirken. Vielleicht vermögen diese dann eine Empfindung in Ihnen auszulösen. Ich denke, die Arbeiten von Marina Abramovic sind es wert, sich auf diese Herangehensweise einzulassen. Das Verstehen dieser Kunst stellt sich dann ganz von selbst ein. Und Ihr Verständnis muss (und wird) auch nicht das gleiche wie das anderer Menschen sein. Lassen Sie sich darauf ein. Sie haben nichts zu verlieren ….

  2. Doch! Einige haben viel zu verlieren: Ihre Würde und einige Illusionen. Wenn Künstlern gehuldigt wird, weil der Zeitgeist es offenbar so will, ist die Grenze zur Geschmacklosigkeit und Zerstörung als Luxusbeschäftigung in einem wohlgenährten Land schnell überschritten. Des Kaisers neue Kleider – dieses Märchen mag hier in einigen Belangen stimmen.

  3. Kleiner Nachtrag: Ich bin nur erstaunt und aber gegen moralische Zensur. Besuchende mit Verantwortung wären dann vonnöten.

  4. Abramovics Performancekunst in Ehren, aber was soll das alles? Ich sehe keinerlei Sinn in ihren Darbietungen, auch hat mir bis dato niemand einen solchen erklären oder gar beibringen können. Ich staune aber immer wieder, von Kunstverständigen mit Inbrunst zu hören, was die zu sagen hat, grossartig, zu was sie wieder anregt – an mir vorbei. Erzeugt abschätziges Kopfschütteln und…, es fehle mir eben an Gespür für höhere, feinstoffliche Erkenntnisse. Gemein damit ist: Ich, eine Banause! Meinung gebildet und, Nase oben, Urteil gesprochen. Publikumswirksam ist es schon, was sie macht. Und das macht sie, bar höherer feinstofflicher Erkenntnisse, sehr gut.

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