Wie können Menschen mit Demenz teilhaben am Gesellschaftsleben? In seinem Roman «Der vergessliche Riese» zeigt David Wagner, wie wesentlich Kommunikation für eine gute Lebensqualität bei Demenz ist. Seniorweb sprach mit dem Autor.
In der Medical Humanities Reihe «Alt werden» ging es an der Veranstaltung vom 31. Oktober 2024 um das Thema «Inklusion und Gesundheit im Alter: Wege zur Lebensqualität». Dabei wurde auch ein multidimensionaler Umgang mit Demenzerkrankungen erkundet. Nach der Veranstaltung las David Wagner aus seinem Werk «Der vergessliche Riese» und diskutierte mit Lea Haller über seine Erfahrungen in der Begleitung seines Vaters, als sich bei ihm demenzielle Symptome zeigten. Seniorweb führte mit David Wagner ein Gespräch.
Seniorweb: «Der vergessliche Riese» ist ein Buch über Ihren dement gewordenen Vater. Was ist daran autobiographisch, was Fiktion?
David Wagner: Es ist nicht ein Buch über meinen Vater, und es ist nicht ein Buch über eine demente Person. Es ist ein Buch über einen Vater, der vergesslich wird. Das Wort «dement» fällt in dem Buch kein einziges Mal. Die Frage ist: Wann erklärt man einen Menschen für dement? Dabei handelt es sich ja um eine deutliche Zuschreibung. Der Vater ist zunächst ein Mensch, der sich einfach oft wiederholt und immer wieder dieselben Sachen sagt. Ich wehre mich dagegen, dass «Der vergessliche Riese» ein Buch über Demenz sein soll. Ich sehe es als ein Buch über einen Vater, der vergesslich wird.
Wehren Sie sich auch dagegen, dass es ein autobiographisches Buch ist?
Ja, was ist Autobiographie? Es ist ein Buch über einen Vater. Ich habe auch einen Vater, und ja, auch mein Vater wurde vielleicht vergesslich. Ja, in diesem Buch steckt Material aus meinem Leben. Stoff, den ich verstehen wollte. Stoff, den ich dann passend zuschneiden und verarbeiten musste, damit ein Buch daraus werden konnte. Oft ist es so: Ich interessiere mich für eine Frage, für ein Problem und versuche es zu verstehen. Das Buch, das dann entsteht, hat seinen Ursprung zwar vielleicht im Selbsterlebten, löst sich als Literatur aber auch davon.
Das Buch endet mit einer Frage des Vaters: «Und jetzt weiss ich wieder, was ich dich fragen wollte, Freund: Wer sind eigentlich deine Eltern?» Hat das Ihr Vater so formuliert oder ist es Fiktion?
David Wagner, deutscher Schriftsteller, geb. 1971, wurde mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet. (Foto©Linda Rosa Saal)
Die interessante Freund-Zuschreibung ist nicht erfunden. Mein eigener Vater hat mich schon in meiner Kindheit immer wieder als «Freund» angesprochen. Vielleicht ist das ein Zeichen für unser besonderes Verhältnis, an das ich mich erinnere und das ich im Buch abzubilden versuche. Später, nach meiner Kindheit, war unsere Beziehung mehr als zwei Jahrzehnte eher lose: Jeder hat sein eigenes Leben gelebt, mein Vater hatte eine zweite Familie, und ich eine eigene. Die «Krankheit», oder sagen wir, die Veränderung durch die Vergesslichkeit, die mein Vater durchlief, war so betrachtet eine Gelegenheit, eine Chance, in diese Freundschaft zurückzufinden.
Ihr Buch strömt durch die Anrede «Freund» viel Heiterkeit aus. War die Begleitung Ihres Vaters wirklich so heiter?
Ja, es heißt, das Buch sei humorvoll. Dass es Heiterkeit ausströme. Was mich natürlich freut. Aber, das wissen wir alle, das Leben mit einer kranken oder dementen Person kann sehr anstrengend sein. Hin und wieder, und das habe ich zu zeigen versucht, hat es auch seine besonderen Momente. Eine Entwicklung, die ich im Roman abzubilden versuche, ist die, dass der Vater immer emotionaler wird. Weicher. Es ist ein Prozess der Verkindlichung, der Riese schrumpft und ist nicht mehr der strenge, rationale Denker, der Riese schwindet, wird zum Gefühlsmenschen. Ich habe das mit meinem eigenen Vater so ähnlich erlebt, weiss aber, dass diese Prozesse auch ganz anders ablaufen können. Der vergessliche Riese wird immer nervös, wenn die Kinder versuchen, ihn vom Autofahren abzuhalten. Seinen Wagen will er sich nicht wegnehmen lassen. Sein Auto ist sein Leben.
Das Buch ist eine Vater-Sohn-Geschichte, aber noch mehr.
Es ist eigentlich eine Familiengeschichte. Wenn ein Elternteil oder die Eltern pflegebedürftig werden, ist die Familie wieder gefragt. Im Buch ist es so, dass die auf die gesamte Bundesrepublik verstreuten Kinder wieder zusammenkommen, sich im Elternhaus einfinden, um die Pflege zu organisieren. Die neue Situation des Vaters wird zum Anlass einer Familienzusammenführung. Das sich gegenüber dem erkrankten Elternteil Verpflichtet-Fühlen, die Sorge um den Vater bringt auch die Kinder untereinander wieder in engere Verbindung. Was auch zu Konflikten führt, weil, so ist es ja meistens, nicht alle Kinder sich gleichwertig engagieren können oder wollen.
Die letzte hochdemente Phase ist ja nicht beschrieben. Warum haben Sie darauf verzichtet?
Vielleicht weil diese Phase sprachlich viel schwieriger abzubilden ist? Ich hätte den Stil des Buches ändern müssen, der Riese selbst hätte nicht mehr so viel sagen können …
Sie hätten sich vom dialogischen Konzept verabschieden müssen…
Ja, genau. Ich wollte mit diesem offenen Ende auf eine heitere Art aus der Geschichte hinauskommen. Das Buch hat kein Ende im klassischen Sinne, es könnte eigentlich weitergehen. Vielleicht wird es eines Tages einen zweiten Band geben… (lacht).
Durch das dialogische Konzept des Buches sind wir immer in der Gegenwart, in einer kommunikativen Begegnung, in der trotz Vergesslichkeit und vielen Wiederholungen eine hohe Lebensqualität erreicht und gegenseitige Wertschätzung gelebt wird.
Ja, das stimmt, wir sind immer in der Gegenwart, im wertvollen Hier und Jetzt. Die Kommunikation mit vergesslichen Personen hat immer auch etwas von einem Theaterstück, das habe ich im Roman zu zeigen versucht. Mein eigener Vater hat in einer späteren Phase die Sprache zwar verloren, er gestikuliert und spielt aber weiterhin, oft kann ich ahnen, was er sagen möchte, aber nicht mehr ausformulieren kann. Die Kommunikation geht weiter, reduziert zwar, aber sie ist noch da. Das ist ein Geschenk.
Wo sehen Sie ein Hauptproblem in der Begleitung von kranken Angehörigen?
Ein grosses Problem ist die Selbstüberforderung. Zu glauben, man müsste die Pflege der Angehörigen unbedingt selbst übernehmen, aus familiärer Verpflichtung. Niemand sollte wegen Betreuung und Begleitung von Angehörigen auf sein eigenes Leben verzichten müssen, finde ich. Es ist wichtig, dass Betreuende und Begleitende sich gegenseitig unterstützen und einander entlasten.
Besten Dank für das Gespräch, David Wagner.
Der Zauber, der vom Buch ausgeht, liegt meines Erachtens im wertschätzenden, liebevollen und oft heiteren Dialog, im gemeinsamen Erkunden von vergangenen Lebensphasen und im Wiederaufleben der Beziehungen der Kinder untereinander in der gemeinsamen Sorge um den Vater. Ohne dass es thematisiert wird, wird der enorme zeitliche und finanzielle Aufwand in der Begleitung einer dementen Person drastisch sichtbar. Der finanziell gutsituierte Vater, der vergessliche Riese, wird zwischen den Besuchen der Kinder und Grosskinder von polnischen Frauen 24 Stunden am Tag betreut, solange er zuhause lebt. Danach lebt er nicht in einem Pflegeheim, sondern in einer am Rhein gelegenen schönen Pflegevilla, wo er sich wohlfühlt.
Wer finanziell nicht auf Rosen gebettet ist und nicht auf liebende Angehörige zählen kann, braucht für ein würdiges Leben in der Vergesslichkeitsphase eine wertschätzende und gute nichtmedizinische Betreuung und Begleitung. Wer leistet sie, und wer finanziert sie? Diese Fragen drängen sich nach der Lektüre des Buches mit hoher Intensität auf.
Titelbild: Lea Haller, Generalsekretärin der SAGW (in Co-Leitung) im Gespräch mit David Wagner. (Foto bs)
David Wagner: Der vergessliche Riese. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. ISBN: 978-3-498-07385-5
Wikipedia-Artikel zu David Wagner
Aus der Sicht von Medical Humanities muss Gesundheit und Krankheit mehrdimensional betrachtet werden. Deshalb engagieren sich die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) und die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) seit 2004 für ein multiperspektivisches Verständnis von Gesundheit und Krankheit und führen dazu regelmässig Veranstaltungen durch, unter anderem die Veranstaltungsreihe «Alt werden».