Kolonialgeschichte ist im Trend. Nun hat der Autor Martin R. Dean seine Version in dem Buch «Tabak und Schokolade« geschrieben, allerdings aus innerer Notwendigkeit, nicht um dem Zeitgeist zu folgen.
Nicht zum erstenmal hat sich Martin R. Dean seiner Herkunft literarisch genähert. Der autobiografische Bericht Tabak und Schokolade ist das Ergebnis akribischer Recherchen, Reisen und Gespräche, die Licht in bisher nicht angetastete Tabuzonen bringen, und konfrontiert den Schriftsteller mit der jahrelang verschwiegenen Geschichte seiner Vaterfamilie in Trinidad. «Was ich im Folgenden bei meinen Nachforschungen (heraus)fand, war eine traumatische Geschichte von Entwurzelung und Zerrüttung, die zu meinem Aufwachsen in der behüteten Schweizer Umgebung in schroffem Gegensatz stand,» schreibt er in einem Essay.
Martin R. Dean. Foto: Maja Wackernagel
Auslöser der Nachforschungen ist ein rotes Fotoalbum, in dem Martin R. Dean Bilder von sich als Kleinkind, seiner Mutter und seinem Grossvater in Trinidad findet. Nach dem Tod seiner Mutter ist es die einzige Hinterlassenschaft, die ihm bleibt. Den lukrativen Teil des Vermögens – Häuser, Möbel, Banknoten, Konten – hat der Testamentsvollstrecker den anderen Erben zugesprochen.
Schon beim ersten Blick auf die frühen Kinderfotos überwältigt ihn eine Erinnerung: Seine Mutter nimmt ihn auf den Arm und flüchtet im Nachthemd auf die Strassen von Port of Spain in Todesangst vor ihrem besoffenen und prügelnden Mann, der droht, seine Zigarette auf dem Kind auszudrücken. Sie hat den Trinidader aus guter Familie in London kennengelernt, ist schwanger geworden und hat ihn geheiratet, hat ihn nachhause mitgebracht und das dunkelhäutige Kind geboren. Dann zieht das Fernweh und die unmögliche Integration ihres Gatten im spiessigen Menziken sie mit ihrer jungen Familie nach Trinidad, wo es bald zur Trennung kommt, und wo sie noch eine zeitlang bleibt.
Martin wächst mit seiner Mutter und deren Schwester bei den Grosseltern im Aargauer Wynental auf, dem Stumpenland. Zwei grosse Zigarrenfabriken teilen sich den Arbeitsmarkt unter sich auf. Im Menziker Arbeiterhaus mit Gemüse- und Obstgarten sorgt die Grossmutter für Sauberkeit, während den Grossvater eine Aura von Tabak umweht, er hat fast pausenlos einen Stumpen im Mund, die Taschen voller Tabakstaub, die Kleidung damit imprägniert. Hier verbringt Martin Kinder- und Jugendjahre, seit er vier ist.
Die Mutter nimmt sich zum zweiten Mann wieder einen Trinidader, einen Mediziner, der zum respektierten Dorfarzt in Menziken wird. Ein Albumfoto beweist dem Schriftsteller, was zuhause nie klar geworden war: «Nachdem du meinem Vater davongerannt bist, hast du dich einem anderen zugewendet, der nicht nur seinen Rivalen, sondern auch dessen Sohn ablehnte.»
Die Coverabbildung nach einem Foto stammt von Sonja Pfäffli. Martin zwischen seinem Grossvater und seiner Mutter auf Trinidad.
Dean ist ein routinierter Schreiber und ein anerkannter Romancier und Essayist. Bei diesem Text, der so viel Heterogenes unter einen Hut, oder zwischen zwei Buchdeckel bringen soll, sucht er nicht die einheitliche Eleganz der Sprache, sondern erzählt im Einklang mit dem Inhalt: Die brutale Geschichte der Kontraktarbeiter, die von der britischen Krone aus Indien als rechtlosen Ersatz für die befreiten Sklaven in die Karibik auf die Felder geholt werden, die Reise zu einer neu entdeckten indischstämmigen Verwandtschaft in Trinidad, wo Kastendenken und Entwurzelung die Menschen prägt, der immer neu aufgenommene Dialog mit der toten Mutter, oder auch die widersprüchlichen Erinnerungen ans Aufwachsen in Menziken, wo Rassismus und Omertà im Dorf der 50er und 60er Jahre gegenwärtig sind.
Diese Sprachmustern entfalten ein spannungsreiches Wimmelbild, das man immer weiter erforschen will. Martin R. Dean lässt auch Gefühle zu, zeigt sich verletzlich, traurig, wütend und enttäuscht, aber auch zufrieden und erfreut, beispielsweise wenn er bei seiner Reise in die eigene Vergangenheit zu Gast bei bislang unbekannten Tanten und Onkeln ist. Sie sind Abkömmlinge jener indischen Kontraktarbeiter, die mit Zehnjahresverträgen der Briten in die Karibik gelockt worden waren, nachdem in ihrer Heimat ihre Subsistenz-Landwirtschaft zur Exportwirtschaft umgestellt sie in Hungersnöte brachte.
Auf der Insel ist die Hälfte der Bevölkerung afrikanischer Abstammung, rund 40 Prozent sind Nachfahren aus Indien, der kleine Rest kommt von überallher. Beispielsweise der karibisch-schweizerische Schriftsteller Edgar Mittelholzer (1909-1965), eine Entdeckung Deans: Der ebenfalls farbige Mittelholzer erfährt im Appenzell wenig Akzeptanz, als er sein Stammhaus sucht.
Blick ins Buch mit einem Foto um 1960 bei der Ankunft nach der Schiffsreise in Genua und einem Bild der karibischen Verwandten.
Denen, die sich ohne Migrationshintergrund kaum je Gedanken zu Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus gemacht haben, wird klar, wie dringlich und lebenswichtig es sein kann, seine Herkunft zu erforschen. Aber diese Recherche hat weder mit Selbstbespiegelung der bekannten Art noch mit therapeutischer Autofiktion zu tun. Dean legt schlicht das Protokoll seiner Recherchen, Analysen, Gedanken und Erinnerungen vor – ohne zu urteilen. Deshalb weist Tabak und Schokolade über das Einzelschicksal hinaus ins Gültige, wenn in starken Bildern und daneben auch in einfacher, scheinbar spontaner Sprechsprache unterschiedliche Welten entstehen:
– das Schweigen und Verschweigen in Menziken;
– die Kolonialgeschichte der britischen Krone;
– verknüpft mit der Familiengeschichte in Trinidad;
– die Zuwendung des Grossvaters, mit dem das Kind Ausflüge unternimmt;
– das Heimweh der Grossmutter, die aus Rügen in die Schweiz emigriert.
All diese Geschichten sind Teil der Suche nach einer komplexen Herkunft, die der Autor in den Kontext der Kolonialgeschichte und Sozialgeschichte im kleinkarierten Schweizer Mittelland stellt. Ein Roman ist das ebensowenig wie Zora del Buonos Seinetwegen, mit dem sie den Schweizer Buchpreis gewonnen hat, bei dem auch Martin R. Deans Tabak und Schokolade auf der Shortlist stand.
Titelbild: Ausschnitt Buchdeckel
Martin R. Dean: Tabak und Schokolade. Roman. Atlantis Verlag, Zürich 2024.
ISBN 978 3 7152 5039 7
Martin R. Dean liest aus «Tabak und Schokolade»