Unter «Erben» verstehen die meisten von uns die Übertragung von Vermögen von einem Erblasser an Erben. Die neue Ausstellung «Hilfe, wir erben!» im Berner Generationenhaus legt den Begriff viel weiter aus: Im Zentrum stehen Fragen wie: Was prägt uns und unser Leben? Woher kommen wir? Was geben wir weiter?
Die Güte von der Mutter, die Strenge vom Vater, die Musikalität von der Grossmutter, der Humor vom Grossvater. Wir alle «erben» auf die eine oder andere Weise. Unser Äusseres, unsere Gene, unser Charakter, unsere Interessen sind geprägt von unseren Vorfahren, Vorbildern, Lehrerinnen und Lehrern, von unserem Umfeld, von der Umwelt. Die neue Ausstellung im Berner Generationenhaus «HILFE, ICH ERBE!» lädt ein, die Vielfalt des «Erbens» zu entdecken, in persönliche Erbgeschichten einzutauchen und sich inspirieren zu lassen für den Umgang mit den eigenen Wurzeln.
In eindrücklichen Videoporträts schildern sieben Personen ihr «Erbe».
Im ersten Ausstellungsraum lernen wir die Geschichten von sieben Menschen kennen, die «geerbt» haben – eine Weinhandlung in elfter Generation, einen Schuldenberg, den Glauben ans Judentum, einen künstlerischen Nachlass oder ein Trauma. Eine Jüdin beschreibt ihre kulturelle und religiöse Identität, die im Judentum über die Mutter vererbt wird. Eine in der Kindheit aus Sri Lanka adoptierte Frau erzählt von ihrer Identitätskrise, als sie erfuhr, dass die Mutter, die sie erzog, nicht ihre leibliche Mutter ist. «Was passiert, wenn da plötzlich ein schwarzes Loch ist?», fragt sie.
Realisiert wurden die eindrücklichen Filmporträts von Dokumentarfilmer Simon Baumann (aktueller Kinofilm «Wir Erben»). Die Videos zeigen auf: Die Prägung durch Familie, Geschichte und Erziehung kann Segen oder Fluch sein, Privileg und Last – ganz gleich, ob es sich um Geld, Gene oder Glaubenssätze handelt. Das Erbe unserer Vorfahren haftet an uns, ob wir es wollen oder nicht. «Zu meiner Erbschaft habe ich nichts beigetragen. Ich hatte einfach Geburtenglück», heisst es an einer Stelle.
Fürs monetäre Erben spielen die Wurzeln eine entscheidende Rolle.
Ist glücklich, wer von seinen Vorfahren Geld oder Liegenschaften erbt? Das stetig wachsende Erbvolumen in der Schweiz gibt dem Thema zusätzliche gesellschaftliche Relevanz und politische Brisanz. Jeder zweite Vermögensfranken wird in der Schweiz vererbt – so viel wie noch nie zuvor. In Politik und Gesellschaft wird heftig über die Höhe der Besteuerung von Erbschaften gestritten. Eine Rangliste nennt die reichsten Schweizer Familien, die ihren Reichtum an Kinder und Kindeskinder weitervererben.
Milliardenvermögen warten auf Erben.
Zusätzlich lieferte eine Umfrage kontroverse Antworten auf die Frage, ob Erben gerecht ist. «Im Erbe zeigt sich die Gesellschaft so wie sie ist, und so, wie sie gerne wäre. Wer seine Gesellschaft gerecht will, muss über die Verteilung des Erbes reden: politisch, juristisch, literarisch,» lesen wir. Es folgen Ratschläge, was zu tun ist, wenn man sein monetäres Erbe zu verteilen gedenkt.
Blick in den Spiegel: Was prägt mich mehr? Meine Gene oder die Umwelt?
Wie stark prägen uns die DNA, die Gene, die Haar- und Augenfarbe, die Körpergrösse, die Nase meiner Vorfahren? Wie weit wird mein Verhalten von meinen Eltern, Lehrern, Lehrmeistern, Vorbildern beeinflusst? Hat die Umwelt einen grösseren Einfluss auf die Prägung meiner Person als die Blutsverwandten? Anschauliche Texte und Quellen geben wissenschaftliche Erkenntnisse wieder, stellen Zusammenhänge her und unterhalten. Wer in den Spiegel guckt, sieht plötzlich sein eigenes Gesicht. Bin das ich? Wie wirke ich auf andere? Fragen zur eigenen Identität schiessen durch den Kopf.
Und da wären noch die familiären Wurzeln, die Familiengeschichte, die Genealogie: Woher kommen wir? Was verraten Familienwappen über unsere Geschichte? Sind wir auch einmal eingewandert? Oder lebt meine Familie seit Jahrhunderten in der Schweiz? Wie war das mit der Grosstante aus New York? Wie perfekt war mein Grossvater? Alte Briefe und historische Dokumente regen zum Nachdenken an.
Wahl einer Weste mit materiellen und immateriellen Werten, die geerbt und weitervererbt werden.
Selbstverständlich ist die Ausstellung interaktiv: Am Eingang erhalten alle Besucherinnen und Besucher ein Gilet, das sie mit Begriffen von Eigenschaften bestücken dürfen, die zu ihrem persönlichen Erbe passen könnten. Wählen kann man zwischen positiven und negativen Eigenschaften, zwischen materiellen Dingen und immateriellen Werten. Bei der Zusammenstellung ist man versucht, zu idealisieren, seinem Wunschdenken freien Lauf zu gewähren.
Eine Sammlung von über 250 Zitaten, Fakten und Anekdoten zur Vielfalt des Erbens ergänzt die Ausstellung. Audiostationen mit Stimmen von Expertinnen und Experten aus verschiedenen Fachgebieten begleiten die Spurensuche. Dabei steht immer das persönliche Verhältnis der Besucherinnen und Besucher zu ihrem eigenen Erbe im Vordergrund.
Im Erben zeigt sich eine Gesellschaft so, wie sie ist.
Die Psychotherapeutin Felizitas Ambauen hinterfragt von den Eltern überlieferte Glaubenssätze und Verhaltensmuster. Und merkt an, dass viele dieser Merkmale erst in Erscheinung treten, wenn man selbst Vater oder Mutter geworden ist. Aus ihrer eigenen Erfahrung stellt sie zudem fest, dass positive oder negative Verhaltensmuster eher von Partnerinnen und Partnern erkannt werden als von den Akteuren selbst.
Die Ausstellung bietet zahlreiche Veranstaltungen, Workshops sowie Angebote für Schulklassen zur Vertiefeng an. Kinder von circa 5 bis 10 Jahren können die Ausstellung selbständig entdecken und einer altersgerechten Audiospur folgen.
Titelbild: Die Ausstellung ist interaktiv und lädt zur spielerischen Suche nach den eigenen Wurzeln, nach Merkmalen der eigenen Persönlichkeit ein. Fotos ZVG und PS
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Generationenhaus der Burgergemeinde Bern
Ausstellung bis am 26. Oktober 2025