Prabha und Anu arbeiten in einem Spital in Mumbai und teilen sich eine Wohnung. Prabha hat seit Jahren nichts von ihrem Mann gehört, verbietet sich jedoch jede Romantik. Die jüngere Anu trifft sich heimlich mit einem Mann, den sie aber nicht lieben darf. Der dritten Kollegin wird die Wohnung gekündigt, ihr bleibt der Umzug aufs Land. «All We Imagine As Light», ein verträumt poetischer Film von Payal Kapadia handelt davon, vor der schillernden Kulisse des nächtlichen Mumbai und des leuchtenden Meeres.
Prabha ist eine pflichtbewusste Pflegefachfrau, die sich einer arrangierten Ehe mit einem Mann beugen musste, der sie in Richtung Deutschland verlassen und in Einsamkeit zurückgelassen hatte. Sie teilt ihre kleine Wohnung mit der jüngeren Kollegin Anu, die wie sie aus Kerala stammt, wo viele Pflegerinnen ausgebildet werden, um später in Mumbai zu arbeiten. Prabhas Ehemann lässt kaum mehr von sich hören. Dennoch fühlt sie sich an ihn gebunden und weist Annäherungsversuche ab. Anu hingegen erlebt eine aufkeimende, heimliche Liebe mit Shiaz. Dieser ist Muslim, was ihre Beziehung in den Augen der indischen Gesellschaft so gut wie verunmöglicht. Ihre Treffen beschränken sich auf flüchtige Verabredungen, stets auf der Suche nach einem Versteck, um sich bald auch körperlich lieben zu können.
Trotz eigener Sorgen greifen die beiden ihrer älteren Kollegin Parvati unter die Arme, als sie aus ihrer Wohnung geworfen werden soll, weil diese einem Luxuskomplex zu weichen hat. Überzeugt von ihrem Recht als Mieterin, weigert sich die Witwe, auszuziehen, ist aber ohne offizielle Dokumente der Willkür ausgesetzt. Als Prabha unerwartet einen modernen Reiskocher aus Deutschland zugestellt bekommt, gerät ihre Welt aus den Fugen. Da kommt es ihr gerade recht, dass Parvati beschliesst, von der Metropole zurück in ihr Dorf an die Küste umzuziehen, wobei ihr Prabha und Anu helfen. Fernab von Mumbai, so hat es den Anschein, treten die drei Frauen aus dem Dunkel ans Licht, klären sich Verhältnisse und kommt es zu beinahe magischen Begegnungen, die manches in hellerem Licht erscheinen lassen.
Mit Prabha im Zentrum spiegelt der Film das Leben dreier Frauen unterschiedlichen Alters, die im Trubel der Grossstadt und ihrer Arbeit gefangen sind. Ihre Beziehungen zu Männern, die entweder abwesend, unerreichbar oder verschwunden sind, lassen Raum für eine tiefe Schwesternschaft. Inmitten des sozialen Determinismus, von jahrtausendealtem Patriarchat und dem hinduistischen Kastensystem verkörpern sie eine kraftvolle Resilienz.
Payal Kapadia inszeniert mit «All We Imagine As Light» eine schillernde Stadt in starken Farben, selbst bei Nacht: mit Blau der Spitaluniformen, Gelb der häufigen Textnachrichten, Rot der Lichter der Stadt und schuf einen verträumt zauberhaften Film, betörend für Augen und Ohren, eine herzerwärmende Geschichte voller Menschlichkeit. Die Regisseurin bietet den Frauen, unterstützt von fantasievoller Musik, einfühlsamer Kameraarbeit und präziser Montage, eine Lösung an, die verwandt ist mit jener in Alice Rohrwachers Film «La chimera» – und was der vielseitig lesbare Filmtitel «Alles, was wir uns als Licht erträumen» andeutet.
Payal Kapadia (*1986)
Biofilmografie der Regisseurin Payal Kapadia
Payal Kapadia wurde 1986 in Mumbai geboren. Ihren Traum, Filmemacherin zu werden, verfolgte sie beharrlich, obwohl sie erst nach zwei Anläufen an der renommierten Hochschule von Pune angenommen wurde. Parallel dazu arbeitete sie als Regieassistentin. Während der Studienzeit wurde ihr Stipendium ausgesetzt, weil sie gegen die Ernennung eines nationalistischen Schauspielers an die Spitze des Instituts protestierte. Unbeirrt von diesen Rückschlägen realisierte sie mehrere Kurzfilme, die in Cannes bzw. Berlin Premieren feierten, und präsentierte 2021 in Berlin ihren ersten Langfilm «A Night of Knowing Nothing», der als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde. Der Schwarzweissfilm zeigt eine Studentenrevolte, verwoben mit Liebesbriefen einer jungen Frau, deren Beziehung an der Kastengrenze zerbricht. Diese Mischung aus Poesie, Politik und Romantik findet sich auch in ihrem Spielfilmdebüt «All We Imagine As Light», mit dem sie Geschichte schrieb: In Cannes wurde sie als erste Inderin mit dem Grossen Preis der Jury ausgezeichnet.
Anu (Divya Prabha) und Shiaz (Hridhu Haroon)
Aus einem Interview mit der Regisseurin
«All We Imagine As Light» taucht tief in das Leben Mumbais ein: Wir sehen die Lichter der Stadt, Geschäfte, kleine Restaurants, Züge, Busse und U-Bahnen, sogar Kellergeschosse, aber auch den Regen, der ständig präsent zu sein scheint und viel zur Atmosphäre des Films beiträgt. Kommen Sie selbst aus der Stadt?
Ich stamme aus Mumbai, mit dieser Stadt bin ich am meisten vertraut. Sie ist kosmopolitisch. Menschen aus dem ganzen Land kommen hierher, um zu arbeiten. Das macht die Stadt multikulturell und vielfältig. Es ist auch ein Ort, an dem es für Frauen etwas einfacher ist, berufstätig zu sein, als an vielen Orten im Lande. Ich wollte einen Film über Frauen machen, die ihr Zuhause verlassen, um woanders zu arbeiten. Mumbai war dafür die richtige Kulisse. Was mich an der Stadt ausserdem interessiert, ist, dass sie sich in einem ständigen Wandel befindet. Teile von Mumbai verändern sich wegen des Immobilienbooms schnell und die Bauherren erobern und überbauen immer wieder Gebiete, wo Menschen seit Jahren leben.
Wenn die Kamera zu Beginn den Markt einfängt, hört man einen Mann sagen, dass er Mumbai auch nach vielen Jahren nicht als seine Heimat bezeichnen würde, weil er wisse, dass er sie wohl eines Tages verlassen wird. Ein grosser Teil der Männer, die zum Arbeiten hierher kommen, bringen ihre Familien nicht mit und sehen ihre Frauen und Kinder nur einmal im Jahr. Da bleibt immer ein Gefühl der Ungewissheit und des Wandels.
Prabha: mit Blick in die Zukunft
Überraschenderweise spielt der zweite Teil des Films ausserhalb von Mumbai, am Meer.
Dieser Teil spielt in einem Dorf im Küstendistrikt Ratnagiri. Lange Zeit kamen viele aus dieser Gegend nach Mumbai, um in den Baumwollspinnereien zu arbeiten, die die Viertel, in denen der erste Teil des Films spielt (Lower Parel und Dadar), stark geprägt haben. Als die Baumwollspinnereien schlossen, war es für die Menschen schwer, wieder auf die Beine zu kommen. Damals begannen viele Frauen, deren Ehemänner ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten konnten, ihre Familie selbst zu finanzieren. Viele dieser Frauen stammen aus den Regionen Raigad und Ratnagiri.
Anu, quicklebendig
Stammen die beiden Pflegefachfrauen Anu und Prabha ebenfalls aus der Region Ratnagiri?
Anu und Prabha kommen aus dem südlichen Bundesstaat Kerala, aus dem auch viele in Mumbai arbeitende Frauen stammen. In Kerala ist die Krankenpflege ein angesehener Beruf, und Frauen, die sich für diesen Beruf entscheiden, werden unterstützt. Viele, die der Arbeit wegen nach Mumbai kommen, sind jedoch nicht völlig unabhängig, auch wenn ihre Familie weit weg ist. Der Widerspruch, der sich daraus ergibt, gilt allerdings für fast alle Frauen in Indien. Trotz der möglichen finanziellen Autonomie gibt es immer noch eine starke Bindung an die Familie in der Heimat. Die Familien bestimmen nach wie vor soziale Regeln und persönliche Entscheidungen, etwa wen man heiraten oder lieben darf.
Titelbild: Schwesternschule in Kerala
Regie: Payal Kapadia, Produktion: 2024, Länge: 118 min, Verleih: trigon-film Vimeo: 992877888
Toller informativer Bericht. Danke.