StartseiteMagazinKulturEine Symphonie im Chaos

Eine Symphonie im Chaos

«La Cocina» von Alonso Ruizpalacios ist ein Porträt der Schwerstarbeiter eines New Yorker Esslokals während vierundzwanzig Stunden, ist eine sensible Studie über Menschen, die in der Fremde angekommen sind und sich eine bessere Zukunft erträumen, ist ein gekonnt inszeniertes und brillant gespieltes Welttheater über Menschenwürde und Unmenschlichkeit. Ab 2. Januar 2025 im Kino.

«The Grill» in Manhattan. Unzählige Gäste des florierenden Lokals werden von den unzähligen Angestellten, von denen viele illegal eingewandert sind, bekocht und bedient: eine eben Eingestellte, die ihre ersten Erfahrungen macht, der mexikanische Träumer und Unruhestifter Pedro, die amerikanische Kellnerin Julia, die sich in ihn verliebt. Als eines Tages in der Kasse ein grösserer Betrag fehlt, ist Pedro ein Hauptverdächtiger.

«La Cocina» des mexikanischen Regisseurs Alonso Ruizpalacios ist ein Film über die Ankunft in einer fremden Welt und über die Träume eines besseren Lebens. Hektisch taucht der spannende und tiefsinnige Schwarzweissfilm im alten 3:2-Format einen Tag lang in das Innenleben einer Gastro-Küche, erzählt von persönlichen Dramen, sozialen Spannungen, Solidarität und Zusammenhalt. In den Hauptrollen brillieren, unterstützt von einem starken Ensemble, die zweifache Oscar-nominierte Rooney Mara als Julia und der charismatische Raúl Briones Carmona als Pedro.

Die Vorlage des Films, das Theater «The Kitchen», war Arnold Weskers erfolgreichstes, in sechzig Städten gespieltes Stück, darunter in Rio de Janeiro, Tokio, Moskau, Montreal, Paris und in Zürich.

 Der Regisseur

Alonso Ruizpalacios zu seinem Film

Persönliche Vorbemerkung: Als ich den Kommentar des Regisseurs gelesen hatte, war mir sofort klar, dass ich Ihnen diesen Text als Einführung nicht vorenthalten will; denn besser als Alonso Ruizpalacios kann ich Sie nicht in diesen grossartigen Film einführen. Hier, leicht gekürzt, sein Text «Bienvenido a La Cocina»:

Ich begann von diesem Film zu träumen, als ich während meiner Studienzeit als Tellerwäscher und Kellner im «Rainforest Cafe» zum ersten Mal «The Kitchen» von Arnold Wesker las, auf dem das Drehbuch für meinen Film lose basiert. Dieses Stück zur gleichen Zeit zu lesen, während ich in einer Grossküche arbeitete, machte die Erfahrung interessanter und die Arbeitstage erträglicher. Ich war erstaunt über das komplexe Kastensystem, das in den Küchen existiert.

«The Grill» in New York City

«The Grill» ist ein Ort, wo Einwanderer Arbeit suchen, weil sie ohne Papiere aufgenommen werden und die Trinkgelder gut sind. Die Arbeit ist hart, und das Essen schrecklich. Ähnlich wie im «Rainforest Cafe» und in Weskers «Tivoli», servieren die Köche widerwillig ein Gericht nach dem anderen, von dem sie wissen, dass es furchtbar ist. Unter solchen Arbeitsbedingungen ist kein Platz für Kunst, was «La Cocina» zu einem Anti-Food-Porn-Film machte. Ich wollte zeigen, was an solchen Orten vor sich geht, in denen an einem normalen Tag 3000 Menschen bedient werden, wo nie genug Zeit für Qualität ist, wo jedes Gericht mit den Schweisstropfen der Küchenhilfen gewürzt ist, wo die Suppe in Backpulver ertränkt wird, damit sie länger hält, wo das Blut am Steak in Wirklichkeit das Blut des Kochs ist, der einen fast tödlichen Fehler gemacht hat. Wegen des Drucks, der Pedro im letzten Akt dazu bringt, Rashids Küche zu zerstören, und Rashid verunmöglicht, Pedros Gründe zu verstehen.

Intimität inmitten des Lärms

Grenzen spielen eine Rolle 

Es sind physische, geistige, soziale Grenzen und die vertikale Struktur der Küche, die als Schauplätze dienen, um zu erforschen, was sich hinter einer geteilten Gesellschaft verbirgt, die im selben Lebensraum feststeckt. In diesem Licht betrachtet, wird das New Yorker Restaurant mit seiner Trennung zwischen Front und Back of House, zwischen Management und Belegschaft, Amerikanern und Ausländern zu einer perfekten Metapher für die moderne Welt. Die «Linie», an der die Köche die ausgehenden Speisen für die Kellnerinnen platzieren, dass diese sie in den Speisesaal bringen, wird auch zur Grenze, die Pedro und Julia voneinander trennt.

Eine unmögliche Liebe

Die Beziehung von Pedro und Julia ist wie eine auf den Kopf gestellte Liebeskomödie. Wir fiebern mit dem seltsamen Paar, wenn es zwischen den Bestellungen lachet, flirtet, streitet und in den Kühlschränken und Gängen Sex hat. In gewisser Weise spiegeln die Figuren die Beziehung zwischen Mexiko und den USA: zusammengewachsen, aber für immer getrennt. In vielerlei Hinsicht geht es in diesem Film auch um geistige Obdachlosigkeit. Obwohl man versucht sein könnte, den Film ausschliesslich als einen über Einwanderung zu betrachten, liegt der wahre Schwerpunkt woanders. Hier ist der Zustand der Figuren als illegale Einwanderer genau das: ein Umstand, eine Gegebenheit. Doch in Wirklichkeit kämpfen sie darum, inmitten der harten Arbeit ein Gefühl für sich selbst, für Gemeinschaft und Brüderlichkeit zu finden.

 Kurze Gespräche an der «Linie»

Arbeit und Beziehungen

Die Arbeit ist der Kampf um das Überleben der Seele inmitten der unaufhaltsamen Maschinerie des globalen Kapitalismus. Wie es der Philosoph Henry David Thoreau beschrieb: «Ich denke, / dass es nichts, nicht einmal das Verbrechen, gibt, das der Poesie, der Philosophie, / ja, dem Leben selbst, mehr entgegengesetzt ist als die unaufhörliche Arbeit.» Oder wie Pedro es im Film sagt, als er gebeten wird, von seinem Traum zu erzählen: «In dieser Küche kann man nicht träumen.» Du kannst die Menschen vermissen, die du zurückgelassen hast. Du wirst keine Zeit haben, jemanden richtig kennenzulernen. Vielleicht wirst du nicht viel verstehen. Vielleicht hast du keine Zeit zum Träumen. Vielleicht musst du nur bis zum Ende der Schicht durchhalten, bis zu deinem freien Tag, bis zum Abspann. Vielleicht wirst du nur die halbe Wahrheit erfahren. Dein Urteil könnte unvollständig sein. Vielleicht ist nichts davon bedeutend. Nur vielleicht findest du einen Freund.

 Hier Männer, dort Frauen

Persönliche Nachbemerkungen 

«La Cocina» sei ein «Film über das Ankommen in der Fremde und das Erträumen einer besseren Zukunft», habe ich am Anfang geschrieben. Das stimmt so. Doch der Film behandelt diese Themen nicht nur aus psychologischer, soziologischer und politischer Sicht.

«La Cocina» ist nach meiner Meinung vergleichbar mit Calderóns «Welttheater» von 1655 und wird so zum «Welttheater» von 2024, mit aktualisierter Schilderung des Zustandes der Welt, in die wir 139 Minuten lang eintauchen. In eine Welt, die unmenschlich ist, in Beziehungen, die unmenschlich sind, und dennoch in eine Welt, die in kurzen Momenten und kleinen Ausschnitten etwas Menschliches aufscheinen lässt.  

Warum? Weshalb? Wozu? Das sind Fragen, mit denen wir von diesem Film bedrängt werden, nachdem wir ins «Kitchen» von New York hineinstossen wurden – und jetzt mit Alonso Ruizpalacios uns mit den Bildern und Tönen dieser Welt auseinanderzusetzen beginnen.

Regie: Alonso Ruizpalacios, Produktion: 2024, Länge: 139 min, Verleih: Filmcoopi

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