1994 war für den Bundesrat ein schwieriges Jahr. Dies offenbaren die am 1. Januar 2025 von Dodis nach der 30-jährigen gesetzlichen Schutzfrist pünktlich herausgegebenen, bisher vertraulichen Dokumente über die internationalen Beziehungen der Schweiz. Geht es dem Bundesrat heute besser?
Die Forschungsstelle Dodis, ein Unternehmen der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, ist ein Kompetenzzentrum für die Geschichte der schweizerischen Aussenbeziehungen seit 1848. Für den Band DDS 1994 (Diplomatische Dokumente der Schweiz 1994) wurden fast ein Kilometer Akten aus dem Schweizerischen Bundesarchiv ausgewertet. Das Ergebnis ist eine Sammlung von forschungsrelevanten Dokumenten, die ab 1. Januar 2025 für jeden Interessierten analog oder digital auf deutsch, französisch, italienisch oder englisch zugänglich sind.
Dodis-Direktor Sacha Zala stellt an der Vernissage vom 3. Januar 2025 den Band DDS 1994 vor. (Foto bs)
Nach Aussagen von Dodis-Direktor Sacha Zala wird die enge Verzahnung zwischen der schweizerischen Innen- und Aussenpolitik in vielen Dokumenten von 1994 eindrücklich sichtbar. Nach dem EWR-Nein im Dezember 1992 stand eine Wiederannäherung an die EU auf der Agenda des Bundesrates. Aber am 20. Februar 1994 wurde der EU-freundlichen Transitpolitik durch die Alpen-Initiative ein Riegel geschoben. Trotz der Annahme dieser Initiative suchte der Bundesrat eine Lösung, welche die Verärgerung in Brüssel reduzieren sollte.
Am 12. Juni 1994 wurden gleich drei Vorlagen von Bundesrat und Parlament abgelehnt: Nein zur Schaffung schweizerischer Blauhelmtruppen der UNO; Nein zur Vorlage zur erleichterten Einbürgerung junger Ausländer; Nein zum Kulturförderungsartikel.
Der Bundesrat schien in einer Vertrauenskrise zu sein. Politisierte er am Volk vorbei? War der Gesamtbunderat innerlich zerstritten? Kommunizierte er nach aussen nicht mit einer Stimme? Vertraten die einzelnen Bundesratsmitglieder in erster Linie die Interessen ihres Departements, ihrer Partei oder die von gewissen Verbänden? Brauchte der Bundesrat einen Coach, um interne Missverständnisse und Animositäten zu lösen?
Zu solchen Fragen wurde an der Vernissage die damalige Bundesrätin Ruth Dreifuss von Valérie de Graffenried und Sacha Zala befragt. Zudem finden sich Antworten in den veröffentlichten Dokumenten.
Führungsschwäche des Bundesrates damals und heute?
Die damalige Vertrauenskrise des Bundesrates scheint der aktuellen Situation zu ähneln. Führungsschwäche damals und heute? Am 20. Dezember 2024 trat der Bundesrat an die Öffentlichkeit und erklärte, dass nach 197 Verhandlungssitzungen seit März 2024 ein materieller Abschluss der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU erzielt worden sei. Ziel sei nun, die juristische Diskussion weiterzuführen, das Abkommen unter der Führung des EDA mit dem EDI, dem EJPD, dem EFD, dem WBF, dem UVEK und der Bundeskanzlei in einen Botschaftsentwurf umzusetzen, der «voraussichtlich Anfang 2026 dem Parlament unterbreitet wird.»
Wie wird der Bundesrat bei den sogenannten «Bilateralen III» zusammenarbeiten? Wer wird mit welchem Engagement und welcher Überzeugungskraft die Themenführerschaft übernehmen? Werden die Gewerkschaften aufs Boot geholt, die eine Schwächung des Lohnschutzes befürchten und mit der EU-Spesenregelung nicht einverstanden sind? Wie werden Bedenken der SVP wegen der aus ihrer Sicht zu hohen Kohäsionsbeiträge und wegen der «drohenden» Anbindung der Schweiz an die EU entschärft? Wie wird das Volk vom Wert der «Bilateralen III» überzeugt? Wie wird eine latente emotionale EU-Skepsis überwunden? Inwiefern ist es wichtig, dass das Volk den Bilateralen III zustimmt? Wird der Bundesrat dabei medial als uneins, wankelmütig, schwach, gar doppelzüngig wahrgenommen werden? Wird der Bundesrat wie 1994 überfordert sein? Wenn ja, liegt das Problem an fachlichen oder persönlichen Schwächen der Bundesräte oder an der Komplexität der Probleme? Was können wir vom Bundesrat erwarten, was nicht?
Drei politische Wünsche für 2025
An der Vernissage vom 3. Januar fragte Seniorweb die alt Bundesrätin Ruth Dreifuss, Ex-Nationalrätin Kathy Riklin und Ex-Nationalrat Jo Lang nach je einem politischen Wunsch für den Bundesrat, die Schweiz und die Weltgemeinschaft im Blick auf das Jahr 2025:
Ruth Dreifuss, geb. 1940, trat 1964 in die SP ein und arbeitete nach ihrem Studium der Wirtschaftswissenschaften in Genf als wissenschaftliche Adjunktin für die Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe (DEH). 1981 wurde sie Zentralsekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, wo sie bis zu ihrer Wahl in den Bundesrat wirkte. Ab März 1993 war sie Vorsteherin des Eidgenössischen Departements des Innern und trat auf Ende 2002 zurück. (Foto: Screenshot von bs aus dem Livestream der Vernissage vom 3. 1. 2025)
Wunsch für den Bundesrat: «Ich wünsche dem Bundesrat, dass er gute Entscheidungen trifft und dass er aktiv den Kontakt mit der Bevölkerung sucht und erklärt, was er macht und vorhat, jetzt gerade auch Europa betreffend.»
Wunsch für die Schweiz: «Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich muss reduziert werden. Die Schweiz sollte sich aber auch bewusst sein, wie privilegiert sie ist, wie hoch der Wohlstand, die Sicherheit und die Kohäsion der Gesellschaft sind. Vor allem für die Umwelt tragen wir gemeinsam Verantwortung.»
Wunsch für die Weltgemeinschaft: «Heute herrschen Krieg, steigende Ungleichheiten hauptsächlich wegen Kriegen und der Klimakrise. Das Wichtigste ist wirklich Frieden und die Möglichkeit für jeden auf dieser Erde, mit seinen Lieben ohne Angst zu leben.»
Kathy Riklin, geb. 1952 in Zürich, promovierte nach einem Studium in Geologie und Geographie an der ETH und arbeitete danach als Gymnasiallehrerin und Prorektorin. Politisch engagierte sie sich von 1982 – 2001 im Gemeinderat der Stadt Zürich und von 1999 – 2019 als CVP-Nationalrätin mit Schwerpunkten in Bildung, Forschung, Umweltschutz, Kultur- und Aussenpolitik (Foto bs)
Wunsch für den Bundesrat: «Ich wünsche mir, dass der Bundesrat als Team zusammensteht und sich für die neuen Bilateralen III mit der Europäischen Union mit voller Kraft einsetzt und zeigt, dass dies ganz wichtig ist für unser Land und für unsere Zukunft.»
Wunsch für die Schweiz: «Ich wünsche mir einen besseren Zusammenhalt in der Schweiz, weniger Gerede über die Zuwanderung und mehr Wertschätzung der kulturellen und wissenschaftlichen Fragen und unserer einmaligen Natur. Zudem sollten wir wertschätzen, dass es uns gut geht, so dass wir auch grosszügig sein können in der Entwicklungszusammenarbeit und beispielsweise auch bei den Kohäsionszahlungen gegenüber Europa.»
Wunsch für die Weltgemeinschaft: «Ich wünsche mir, was sich fast alle wünschen: Frieden, Zusammenarbeit, wirtschaftliche Prosperität. Zudem sollten wir uns an den Nachhaltigkeitszielen, die wir uns im Rahmen der UN-Agenda 2030 gesetzt haben, orientieren und sie zu erreichen versuchen.»
Jo (Josef Wendelin) Lang, geb. 1954, Dr. phil., Historiker und Berufsschullehrer. Politisch engagierte er sich im Zuger Gemeinde- und Kantonsrat und war von 2003 bis 2011 Nationalrat. Heute ist er aktiv in der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSOA) und bei den Grünen. (Foto zvg)
Wunsch für den Bundesrat: «Ich wünsche ihm, dass er den Mut und die Entschlossenheit, die er mit der Bürgerstockkonferenz bewiesen hat, auch andernorts, insbesondere im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg beweist. Möge er unsere Neutralität als Chance für ein starkes Engagement für den Weltfrieden verstehen.»
Wunsch für die Schweiz: «Ich wünsche mir, dass die Schweizerinnen und Schweizer mehr ihrer Stimme des Gewissens als den Parolen von Parteien folgen. Wie sie es im vergangenen Jahr bei sozialen Fragen oder beim Nein zum Ausbau von Autobahnen bewiesen haben.»
Wunsch für die Weltgemeinschaft: «Ich wünsche mir, dass die Weltgemeinschaft sich unmissverständlich am Völkerrecht und an den Menschenrechten orientiert, die UNO im Kampf gegen Krieg und Elend unterstützt und alle Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen ohne Rücksicht auf deren Täter verurteilt.»
Am 3. Januar 2026 wird an der Uni Bern die Vernissage zum Band DDS 1995 stattfinden. Mit dabei sein werden die Forschungsgruppe Dodis, Persönlichkeiten aus dem diplomatischen Corps von 1995 und politisch und wissenschaftlich Interessierte.
Titelbild: Das offizielle Bundesratsfoto 1994, aufgenommen im Salon de la présidence im Bundeshaus West. Von links: Bundeskanzler Couchepin, die Bundesräte Ogi, Koller und Villiger, Bundespräsident Stich, die Bundesräte Delamuraz und Cotti sowie Bundesrätin Dreifuss, dodis.ch/70203 (Foto: Karl-Heinz Hug, Bundeskanzlei Bern).
DDS 1994: Diplomatische Dokumente der Schweiz Band 1994. Kostenlos herunterladen oder als Taschenbuch bestellen (Fr. 15.60)
Livestream der Dodis Vernissage DDS 1994