StartseiteMagazinKultur24 Stunden bis zum Asyl-Antrag

24 Stunden bis zum Asyl-Antrag

Der Guineer Souleymane kommt über die Sahara, libysche Gefängnisse, das Mittelmeer und Italien nach Paris und stellt Antrag auf Asyl. Dafür pedalt er, in der Corona-Zeit, zwei Tage vor dem Aufnahmegespräch als Velokurier durch Paris. Der Filmemacher Boris Lojkine schuf mit «L’Histoire de Souleymane» ein erschütterndes Dokument und ein gültiges Gleichnis über die Migration. Ab 16. Januar im Kino.

Boris Lojkine, 1969 geboren, Philosophiedozent, dann Dokumentar- und Spielfilmregisseur, zur Entstehung seines neuen Films:

«Filmemachen hat für mich immer bedeutet, mich in andere Leben als in mein eigenes hineinzuversetzen und den Zuschreibungen zu entkommen, die besagten, wie ich sein sollte und was ich zu erzählen hätte. Seit einigen Jahren schon wollte ich einen Film über die Fahrradkuriere drehen, die mit ihren türkisblauen oder leuchtend gelben Taschen mit dem Logo der App, für die sie arbeiten, durch die Stadt hetzen, auffällig, doch illegal.

«Hope», mein erster Spielfilm, erzählt die Geschichte von Léonard und Hope, einem Kameruner und einer Nigerianerin, die sich auf ihrem Weg nach Europa begegnen. In den Gesprächen nach dem Kinostart fragten mich viele Leute, ob ich nicht eine Fortsetzung schreiben und erzählen wolle, wie es den beiden in Frankreich ergehen würde. Ich habe mich lange gegen diese Idee gewehrt, da das Reisen von Beginn weg Teil meiner Filmleidenschaft war. Meine Filme habe ich alle in weit entfernten Ländern gedreht: Marokko, Vietnam, Zentralafrikanische Republik.

Aber das Bild der Fahrradkuriere liess mich nicht los und ich fragte mich: Was wäre, wenn ich Paris als eine fremde Stadt filmen würde, deren Codes man nicht kennt, in der alle Polizisten eine Bedrohung, deren Bewohner:innen feindselig, voller Hochmut und nur schwer zugänglich sind? Von den Sozialbauten in den grossen Vorstädten bis zu den Haussmannschen Gebäuden im Zentrum, von MacDonalds bis zu Bürogebäuden, von Notunterkünften bis zu den RER-Waggons. Es ist meine Stadt, die ich gefilmt habe, manchmal direkt bei mir um die Ecke, jedoch aus einem radikal anderen Blickwinkel. Die Fremden im Film sind wir: der gestresste Arbeiter, der seinen Burger bestellt, der Passant, der sich über die Fahrradkuriere ärgert, die Beamtin, die Souleymane gegenübersteht.»

Die Geschichte von Abou Sangare

Die Stadt bei mir um die Ecke filmte Boris Lojkine. Die Fremden neben mir im Bus spielten in unserer Filmversion: in Aneignung der gleichen existenziellen Fremdheit, die jedes Leben umgibt, in das wir alle hineingeboren sind. Um dieses Thema kreisen Werke wie «L’Etranger» von Camus oder das Diktum «L’enfer c`est les autres» in «Huit Clos» von Sartre. Diese Fremdheit bildet, vermute ich, den Untergrund von «L´Histoire de Souleymane».

Die Käseglocke, welche die Story umhüllt, ist die Zeit, die kaum Zeit zum Leben ausbrechen lässt. In der «Geschichte von Souleymane» übernimmt dies das Eilen und Warten im Wettlauf gegen die Zeit, die das Leben des Protagonisten einschränkt. Er ist gezwungen, nach zwei Tagen sich zum Gespräch beim Amt zu melden, das über die Zukunft entscheidet. Dort kommt er an, ähnlich K. in Kafkas «Schloss». 

Wie oft in Geschichte innerhalb unserer ökonomischen und politischen Breitengrade spielt das Geld eine entscheidende Rolle: Souleymane braucht Geld, um zu leben, bekommt aber kaum zu Geld, weil er nicht arbeiten darf, oder er macht sich arbeitend schuldig und muss Bussgeld zahlen.

Mit einem von Kollegen erfundenen Lebenslauf erhofft er, mit dem entscheidenden «Oui» in unser System eingelassen zu werden. Doch damit gibt er auf, was ihm zuinnerst gehört, seine Mutter, seine Freundin und seine Identität. Und er fragt sich, was er dann noch ist.

 Das Gespräch

Das Entscheidende im Leben von Sangare Souleymane geschieht beim Gespräch auf dem Amt. Und das erweist sich im Film als schauspielerisches Highlight! Mit einer differenzierten Profischauspielerin und einem authentischen Laiendarsteller, der dafür in Cannes die Goldene Palme als bester Darsteller bekam; seine gespielte Geschichte kommt seiner persönlichen nahe. 

Nochmals Boris Lojkine zu seinem Film: «Um die lange Schlussszene zu schreiben, liess ich mir die Asylgespräche von Guineern nacherzählen, die diesen Prozess durchlaufen hatten. Ich erhielt auch von der Ofpra (dem französischen Amt für den Schutz von Geflüchteten und Staatenlosen) die Genehmigung, an Gesprächen teilzunehmen, und sprach mit Schutzbeamt:innen, wie man die Ofpra-Mitarbeitenden, die diese Interviews führen, nennt. Ich wollte unbedingt beide Perspektiven in der Szene haben. Dieser Teil des Films verlangte auch nach einer ganz eigenen Dramaturgie, denn er ist fast wie ein Film im Film. Ich wollte, dass das Gespräch wie ein Duell daherkommt, bei dem Souleymane bis zum Schluss mit Haut und Haar kämpft und das Publikum sich seiner Sache anschliesst, bis sich alles umkehrt. Wenn Souleymane am Ende endlich erzählt, warum und wie er Guinea verlassen hat, hat er vielleicht alles verloren, aber wenigstens zum ersten Mal die Wahrheit gesagt, Er ist wieder sich selbst geworden.

Für die Schauspieler:innen war diese Szene ebenfalls eine besondere Herausforderung: Zwanzig Seiten Dialoge lernen und eine emotionale Intensität zeigen, in die man sich nicht hineinschummeln kann. Für die Rolle der Schutzbeamtin schlug ich Nina Meurisse vor, mit der ich bereits meinen vorherigen Film «Camille»  gedreht hatte. Ich wollte nicht, dass sie die «Böse» der Geschichte ist, sondern eher eine engagierte junge Frau, die zwischen ihrer Empathie für Souleymane und den Regeln der Institution, die sie vertritt, gefangen ist. Eine Vertreterin Frankreichs. Eine von uns, sozusagen.

 Zurück bleiben Fragen

«Ich wollte keinen politisch korrekten Film mit dem guten Asylbewerber drehen», meint der Filmemacher. Am Schluss des Filmes gibt es deshalb auch keine Antwort, nur Worte von ihm und Worte von ihr, die aber nie einen Schlusspunkt, sondern einen Doppelpunkt setzen. Was danach kommt, haben wir zu bestimmen: im Film, in der Politik, in unserem Leben. So denkt auch der Regisseur: «Ich ziehe es vor, dem Publikum Fragen zu stellen: Verdient Souleymane es, in Frankreich zu bleiben? Sollte man ihm Asyl gewähren? Hat er Ihrer Meinung nach das Recht dazu? Hat er es verdient? Was würden Sie wollen?».

Mit diesem Film lässt uns Boris Lojkine auf aussergewöhnliche Weise in eine Realität eintauchen, für die sich das Mainstreamkino kaum interessiert. Er verleiht seinen Figuren die Würde und Menschlichkeit, mit all ihren Betrügereien und Zärtlichkeiten, die ihnen der tägliche Medienfluss und die Politik absprechen.

Boris Loikine über seinen  Film

Regie: Boris Lojkine, Produktion: 2024, Länge: 93 min, Verleih: trigon-film

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