Abseits kurzfristiger Profitgier und politischem Gezänk stellt der Schweizer Filmemacher Vadim Jendreyko seinen Film-Essay «Das Lied der Anderen. Auf der Suche nach Europa» persönliche, Sinn suchende Fragen zu Europa, die während mehr als zwei Stunden fesseln, wenn man den Mut aufbringt, sich ihnen zu stellen. Ab 6. Februar im Kino.
Was ist Europa? Muss sich die Geschichte mit all ihren Albträumen und Versprechungen immer und immer wiederholen? Europa, die «Frau mit der weiten Sicht» aus der griechischen Mythologie ist heute gefordert wie nie. Ob die Geologin oder der General, ob der Vogelforscher oder die Dirigentin, von Athen, der Geburtsstätte der Demokratie, bis zum norwegischen Eismeer, fängt der Essay vielfältige Voten und unerwartete Zwischentöne ein und fügt sie zu einem vielstimmigen Chor, der von Toleranz und Zuversicht einer gemeinsamen Zukunft kündet.
Vadim Jendreyko, der Regisseur, schuf unter anderem 2001 «Bashkim», 2009 «Die Frau mit den 5 Elefanten», 2015 «Ama-San». Im neuen Film bahnt er sich von heute aus einen Weg durch den Kontinent, auf den Spuren seiner bewegten Vergangenheit, und begegnet unterschiedlichsten Menschen, lauscht ihren Erzählungen und Liedern, taucht ein in düstere Kapitel der Vergangenheit und weist auf Lichtblicke, die hoffen lassen.
Der Ornithologe Tomasz Wesolowski: «Wenn wir alle auf dieselbe Weise denken, laufen wir Gefahr, dass wir bis zum Schluss fatalen Irrwegen folgen.»
Der Filmemacher erforscht Muster, in denen wir seit Generationen gefangen sind, folgt der Spur der Verwüstungen, die Männer im Diktat von Macht und grenzenlosem Wachstum hinterlassen haben, trifft auf andere Männer, die diese Hinterlassenschaften transformieren und lässt durchscheinen, was Frauen Grosses leisten.
Um die Spannung angesichts der vielen Fakten, Beobachtungen, Ideen und Analysen aufrecht zu halten, folgt hier lediglich die Liste der Akteur:innen in der Chronologie ihrer Auftritte und Ausschnitte aus einem Interview mit dem Regisseur (aus der Dokumentation von Vinca Film), im Anhang integral.
Robert Monar, Bürgermeister, am Zaun in Ungarn
Luigi Rotolo, Guy Spenle und Michel Petitjean, Freiwillige, auf dem Hatmannswillerkopf
Daan Verfaillie, Teamleader, Kampfmittelräumdienst, Flandern
Evu Nomikou, Geologin, Santorini
Tomasz Wesolowski, Ornithologe, im Wald von Bialeza
Jovan Divjak, General, Sarajevo
Dzevad Karahasan, Schriftsteller, in the Vijecnica in Sarajevo
Nermin Ibrulj, Buchrestaurator, Sarajevo
Alma Ganz, Dirigentin, Pontanima Chor, Sarajevo
Ronny Nygard, Fischer, Lofoten
Ingrid Sommerseth, Archäologin, in der Höhle auf den Lofoten
Nermin Ibruli, der Buchrestaurator in der zerstörten Bibliothek von Sarajevo: «Was für eine Welt entsteht, wenn die Bibliotheken vernichtet werden?»
Interview mit dem Vadim Jendreyko
Anaïs Steiner: Was hat Sie auf die Suche nach Europa geführt?
Vadim Jendreyko: Es ist für mich erschütternd zu erleben, wie ein Gebilde, an dem Generationen gewirkt haben, das nach der Erfahrung von furchtbaren Kriegen demokratische Grundwerte sichern sollte, auf ein Werkzeug für nationalstaatliche Eigeninteressen reduziert wird. Wie kann es sein, dass eine so einzigartige historische Chance, wie sie Europa darstellt, einfach preisgegeben wird? Diese Sorge hat mich motiviert, sie stand am Anfang meiner Suche.
Sie sprechen von der EU?
Die EU ist für mich ein Versuch, historische Erfahrung in etwas Konstruktives umzuwandeln. Ein Projekt für eine bessere Zukunft. So war das zumindest am Anfang angedacht, als ehemalige Kriegsgegner:innen sich zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit entschlossen, um den Frieden zu sichern. Europa ist für mich aber viel mehr als das, es ist die Versammlung von unterschiedlichsten Einzigartigkeiten auf relativ engem Raum.
Können Sie das ausführen?
Mein persönliches Verhältnis zu dem, was ich «Europa» nenne, fusst in meiner Kindheit. Europa war für mich eine Art unerschöpfliche Schatztruhe, in der Menschen mit den unterschiedlichsten Eigenarten Platz hatten. Sprachen, von denen ich kein Wort verstand, Speisen, die zu probieren Mut brauchte. Ich bin in der Schweiz aufgewachsen, im Dreiländereck zwischen Deutschland und Frankreich. Egal, in welche Himmelsrichtung ich mich bewegte, es gab immer Unterschiede: andere Klänge, Gerüche, Stimmungen. Ich wusste: Egal wie ich heisse, aussehe und denke, ich habe Platz in diesem Europa.
Und hat sich das verändert?
Ja, grundlegend. Von diesem Gefühl ist heute nicht mehr viel übriggeblieben. Es war ein schleichender Prozess und hat auch mit der Veränderung meiner eigenen Sichtweisen im Laufe der Jahre zu tun. Die Stimmung, die ich noch als Jugendlicher an vielen Orten erlebte, hat sich verändert. Vor vielen Jahren habe ich auf einem kleinen Bahnhof in Ligurien das Graffiti gelesen: «Non si balla più, non si canta più.» («Wir tanzen nicht mehr, wir singen nicht mehr»). Das bringt es ziemlich auf den Punkt.
War es also eine Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit, die Sie angetrieben hat?
Ich würde eher sagen, die Sehnsucht nach Zeit. Man tanzt und singt, wenn man Zeit hat. Wenn man nicht einem Zweck hinterherrennt. Und wenn man in Frieden leben kann! Am Anfang dieses Projektes habe ich mich gefragt, ob das, was Europa früher für mich bedeutet hat, eine naive Projektion war, eine Wunschvorstellung. Aber es war viel mehr als das: Das Europa meiner Kindheit war teuer erkauft von der Generation vor uns, es war ein Ausatmen der Geschichte, in der noch kurz vorher Krieg und Verfolgung geherrscht hatten. Ich hatte einfach das Privileg, in diesem Moment der Geschichte aufzuwachsen, in der jede Zukunft besser schien als die Vergangenheit. Und dann plötzlich klopfen sie wieder an, diese Wiedergänger:innen der Vergangenheit, einfach in neuen Gewändern. Bis vor Kurzem gab es noch Zeitzeug:innen, die wie Wächter:innen rote Linien zogen, die nicht überschritten werden durften. Diese Menschen sind bald weg. Jetzt liegt es an uns.
Alma Ganz, Dirigentin des Pontanima Chores von Sarajevo, verbindet Völker und Religionen miteinander.
Antworten und Fragen der Antworten
Ähnlich wie ich Filme von Ingmar Bergman erlebe, erlebte ich den Film von Vadim Jendreyko. Ein erster Film des Schweden führt auf verschlungenen Wegen zu einer Antwort, die als Frage den nächsten Film einführt, der wieder zu einer neuen Antwort führt ̶ und dies immer weiter. Auch Vadim Jendreyko gibt Antworten, die sich immer wieder als neue Fragen entpuppten und uns so durch den ganzen Film als Antworten suchende Fragende einlädt.
Titelbild: Die Geologin Evu Nomikou aus Santorini: «Die Geologie hilft uns, die Zusammenhänge zu verstehen. Wenn wir die Verbindung zu den Zusammenhängen verlieren, sehen wir die Konsequenzen unserer Handlungen nicht mehr.»
Regie: Vadim Jendreyko, Produktion: 2024, Länge: 136 min, Verleih: Vinca Film