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Fingerfertig mit dem Faden

«Fadenspiele/String Figures» zählen zu den ältesten Kulturtechniken der Menschheit. Die Ausstellung im Museum Tinguely in Basel zeigt gegenwärtige und historische Werke aus Kunst und Ethnologie. Videos und Fotos animieren zum Nachmachen.

Als Kinder spielten wir allein oder zu zweit mit einem Faden oder einer Schnur, deren Enden zusammengeknüpft waren. Es entstanden immer dieselben vier bis fünf Figuren, die wir einander von den Händen abnahmen. Die Ausstellung Fadenspiele/String Figures. Eine forschende Ausstellung im Museum Tinguely zeigt eine Fülle von Kreationen aus der ganzen Welt. Sie erzählen Geschichten, sind Zeitvertreib, verbinden die Menschen und haben Eingang in Wissenschaft und Kunst gefunden. Für das Publikum sind im Saal Strings aufgehängt, mit denen Fadenspiele selbst ausprobiert werden können.

Fadenspiele von Maureen Lander, 1998. Aus der Sammlung des Museums von Neuseeland Te Papa Tongarewa. © Christchurch Art Gallery Te Puna o Waiwhetū.

Gleich zu Beginn der Schau begrüsst David Ket’acik Nicolai aus Alaska die Besucherin in einem Video. Er demonstriert, wie in seiner Heimat Fadenspiele gemacht und dabei Geschichten erzählt werden. Heute performt er als Yu’pik Dave auf TikTok String Figures, die ihm seine Grossmutter beibrachte. In anderen Gegenden der Welt wie etwa auf Kiribati, einem Inselstaat im Pazifik, werden Wettbewerbe zum Erfinden neuer Fadenspiel-Muster veranstaltet.

Der Ingenieur David Ket’acik Nicolaiaus Alaska erzählt mit einer Fadengeschichte, wie ein unaufmerksamer Mann vom Schlitten fällt. Video Still (rv).

Ethnologen sehen in Fadenspielen Universalspiele, die überall praktiziert werden. 1888 entdeckte der deutschamerikanische Ethnologe Franz Boas (1858-1942) die String Figures der Kwakiutl auf Vancouver Island in Kanada. In der Folge suchten Ethnologen gezielt nach Fadenspiel-Traditionen, entwickelten zur Dokumentation komplexe Notationssysteme und filmten den Ablauf der Spiele. So bleibt das Wissen um die String Figures für die Nachwelt erhalten.

Verschiedene Fadenspiel-Figuren wie Spinne, Vogelspinne, kleiner Vogel, Tapir, 1903-1905, aus der oberen Rio Negro Region. Sammlung Theodor Koch-Grünberg. © Ethnologisches Museum Berlin, Foto: Christoph Oeschger.

Eine frühe Verwendung von Fäden bzw. Schnüren in der Kunst ist vom Surrealisten Marcel Duchamp bekannt. 1942 spannte er durch die von ihm und André Breton organisierte Ausstellung First Papers of Surrealism in New York Schnüre, so dass diese den Blick auf die Kunstwerke unterbrachen oder versperrten. Es waren keine Fadenspiele im eigentlichen Sinne, aber Duchamp liess sich von denselben inspirieren. In ihrem Experimentalfilm Witch’s Cradle von 1943 hat die Regisseurin Maya Deren den Künstler beim Herstellen von Fadenfiguren gefilmt und «als feministischer Witz», wie sie sagte, «einen Faden böswillig an Duchamps Hals hochkriechen» lassen.

Marcel Duchamp, Ausstellung «First Papers of Surrealism», 1942, New York. © Foto: John Schiff

Auch in Filmen des amerikanische Experimentalfilmers Harry Everett Smith (1923-1991) erscheinen Fadenspiele. Etwa im vierteiligen Opus aus den 1970er Jahren #18: Mahagonny, das mit der gleichnamigen Oper von Bertolt Brecht und Kurt Weill synchronisiert ist. Rechts im Film führt eine Fadenspielerin historische Figuren nach Aufzeichnungen aus der Chukotka Pensinsula von 1909 aus.

Film «#18: Mahagonny» von Harry Smith, 1970-1980, 16mm Film, Video Still. © Harry Smith Archives

Im Archiv Encyclopaedia Cinematographica sind Filme mit Fadenspielen aus Basel erhalten. 1969 drehte der Biologe Hans Rudolf Haefelfinger einen Film von zwei Mädchen beim Fadenspiel auf dem Dach des Naturhistorischen Museums Basel. Dazu schrieb der Regisseur, «Fadenspiele treten meist ‘epidemienartig’ auf und gehen von Schulen auf ganze Quartiere über.» Er war besorgt, dass diese Spiele mit der Verbreitung des Fernsehens verschwinden würden.

Zwei Mädchen beim Fadenspiel in Basel. Film von Hans-Rudolf Haefelfinger, 1975. Video Still, © Dunia Lingner und Ruth Altenbach.

Das Figurenrepertoire aus Basel ist weit weniger komplex als jenes auf Kiribati in Ozeanien. Aufgrund des Basler Dokumentarfilms präsentiert die Schau neben dem Film auch eine Fotoserie mit einzelnen Fadenspielfiguren, etwa die sogenannte Nähmaschine und der Eiffelturm, die zum Telefonmasten werden. Das Nachmachen solcher Figuren ist nicht so einfach.

Installationsansicht: Toby Christian, «Stringer Study: Teufelshoerner Eiffelturm Zauberknoten», 2024. Kohledurchschlag auf Leinen unter KI-Anwendung. Foto: © Christoph Oeschger

Das Tinguely Museum hat zeitgenössische Kunstschaffende eingeladen, sich am Fadenspiel zu beteiligen. So generierte Toby Christian in Stringer eine neue Figur mithilfe von KI auf der Basis der Namen von Fadenspielen, die in Basel bekannt sind.

Donna Haraway demonstriert mit einem Garnknäuel ihre Theorien. Video Still (rv), aus: «Donna Haraway reads ‘The National Geographic’ on Primates», 1987, Paper Tiger Television, Nathalie Magnan.

In den letzten Jahren erlebten Fadenspiele sowohl in der Kunst als auch in der Theorie einen regelrechten Boom. Das ist vor allem der feministischen Wissenschaftlerin Donna Haraway zu verdanken, die seit den 1980er Jahren das Fadenspiel als Metapher für transdisziplinäre Kooperationen verwendet. Haraways string figures illustrieren eine spielerische, prozessorientierte Art des Denkens. Auch Kunstschaffende lassen sich von ihrem Ansatz inspirieren, schaffen grenzüberschreitende Verbindungen getrennter Bereiche und entwickeln neue Ästhetiken.

Titelbild: Katrien Vermeire, «Touwfiguren», 2016. Video Still. © Katrien Vermeire

Bis 9. März 2025
«Fadenspiele/String Figures. Eine forschende Ausstellung», Museum Tinguely in Basel
Ein Katalog mit verschiedenen Essays und Abbildungen erscheint in englischer Sprache ab Februar 2025, CHF 40.00

Zum Erlernen von Fadenspielen eignet sich folgendes Buch:
Christel Dhom, «Fadenspiele. Mit Freude Hände und Gehirn trainieren», Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, 2022. ISBN 978-3-7725-2296-3

 

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