Kriege entfachen in der Schweiz Diskussionen über die Neutralität. In Aarau setzen sich in der Ausstellung «Modell Neutralität» des Aargauer Kunsthauses vierzehn zeitgenössische Kunstschaffende mit dem Thema auseinander und eröffnen neue Perspektiven.
Die Schweiz wurde durch die völkerrechtliche Neutralität inmitten Europas zu einer unparteiischen Ansprechpartnerin in Krisen, auch zu einem Standort von internationalen Organisationen. Durch die Konflikte in der Welt sieht sie sich zunehmend gezwungen, Position zu beziehen. Entsprechend intensiv wird das Modell Neutralität in der Gesellschaft aus völkerrechtlicher, historischer, politischer und ethischer Sicht diskutiert. Auch Kunstschaffende setzen sich damit auseinander. Das Kunstmuseum Aargau gibt ihnen in der Ausstellung Modell Neutralität eine Plattform.
Guido Nussbaum, «Schweizer Welt 1», Analogfotografie, 1995. Foto: rv
Künstlerinnen und Künstler sind mit Unsicherheiten vertraut. Sie können neue Perspektiven aufzeigen, indem sie alte Gewissheiten in Zweifel ziehen. So irritiert im ersten Ausstellungsraum eine riesige Weltkugel an der Wand. Denn die Umrisse des abgebildeten Kontinents wirken fremd. Auf seinem Globus Schweizer Welt 1, eine vergrösserte Analogfotografie, rückt der Künstler Guido Nussbaum (*1948) die Schweiz ins Zentrum der Welt. Eigentlich steht die Westschweiz aufgrund der Positionierung im Vordergrund.
Guerreiro do Divino Amor, «Le Miracle d’Helvetia», Multimediainstallation, 2022.
Mit rot und weiss leuchtenden Augen über bläulich dampfendem Wasser scannt die rotierende janusköpfige Brunnenskulptur Helvetia den dunklen Raum. Die Arbeit des schweizerisch-brasilianischen Künstlers Guerreiro do Divino Amor (*1983) führt zu weiteren Abschnitten der mehrteiligen Multimediainstallation Le Miracle d’Helvetia.
Seine Recherche gilt den Mythen und ihrer Bildsprache, die sich Institutionen und Unternehmen aneignen, um neue Fiktionen in der Gesellschaft zu verankern. In dreizehn Leuchtkästen präsentiert er ein ikonografisches Panoptikum traditioneller Schweizer Werte: Die Schweiz als Paradies auf Erden, in dem sich Natur und Technik, Kapitalismus und Demokratie in einem surrealen Gleichgewicht befinden. Die Neutralität der Schweiz vom Idyll der Alpenkulisse bis zur Wiege des biotechnologischen Fortschritts erscheint als Quelle unzähliger Widersprüche.
Aleksandra Mir, «Island of the Dead», 2006. Foto: rv
Aleksandra Mir (*1967) sieht in Arnold Böcklins (1827-1901) ikonischem Bild Die Toteninsel von 1880 Parallelen zu den düsteren Kapiteln der neutralen Schweiz. Es war Adolf Hitlers Lieblingsbild, das sein Privathaus und später die Reichskanzlei geschmückt hat. Die Künstlerin setzt Böcklins Toteninsel ins Zentrum ihrer Filzstiftarbeit, ein grossformatiges Tondo, und umrahmt das Bild dekorativ mit aneinandergereihten Totenköpfen. Mit ihrem Werk suggeriert sie eine Festung Europa, die sich geografisch abschottet und dabei menschlich verroht.
Künstlerduo huber.huber, «NO WAR», 2025.
Das Künstlerduo huber.huber (Markus Huber *1975 / Reto Huber, *1975) reflektiert über Krieg und Frieden. Bereits 2011 schufen die Zwillingsbrüder eine Arbeit über den Friedensaktivisten und Kriegsdienstverweigerer Max Dätwyler (1886-1976), dessen Porträt Der Friedensapostel, 1974 von Varlin (Willy Guggenheim) im Obergeschoss prominent zu sehen ist. Inspiriert vom Widerspruch zwischen Friedenssehnsucht und Realität sammelten Reto und Markus Huber zerrissene und von Witterung gezeichnete Peace-Fahnen und schufen daraus eine textile Wandinstallation mit dem Titel NO WAR. Sie fragen sich: «Warum verblassen die Regenbogenfarben der Friedensflaggen auf Balkonen und an Hausfassaden, ohne dass der erhoffte Frieden eintritt?»
Marc Bauer, «Sphinx, 1931, 1935/1947», 2014. Wandzeichnung in schwarzer Kohle nach einer Fotografie vom 27. Februar 1938 zur Eröffnung der Ausstellung «Entartete Kunst» im Haus der Deutschen Kunst in München: Joseph Goebbels neben Ausstellungsleiter Hartmut Pistauer (mit Brille). Links zwei Gemälde von Emil Nolde, rechts Skulptur von Gerhard Marcks.
In seiner zeichnerischen Praxis verbindet Marc Bauer (1976) historische Ereignisse mit zeitgenössischen Fragestellungen und löst sie aus ihrem zeitlichen Kontext heraus. Seine Rauminstallation Sphinx, 1931, 1935/1947 umfasst eine Wandzeichnung in schwarzer Kohle, eine Serie von Bleistiftzeichnungen auf Papier und ausgewählte Malereien des Schweizer Künstlers Karl Ballmer (1891-1958), Hamburg, dessen Werke in Nazideutschland als «entartete Kunst» diffamiert wurden.
Marc Bauer setzt sich in seiner Installation mit der problematischen Herkunft von Kunstwerken in Museen kritisch auseinander und hinterfragt die Neutralität von Museumsinstitutionen. Dabei regt er an, die ethischen und politischen Dimensionen des Kunstbetriebs neu zu überdenken.
Thomas Hirschhorn, «Wirtschaftsland Davos», 2001, © 2025 Pro Litteris, Zürich.
Den Abschluss der Schau bildet Thomas Hirschhorns raumfüllende Skulptur Wirtschaftsland Davos aus dem Jahr 2001. Es ist eine Nachbildung des Davoser Bergtals aus Schaumstoff mit Miniaturpolizisten, Militärs und Panzern sowie Originalwerken von Ernst Ludwig Kirchner. Teil der Installation ist auch ein Kino für Rolf Lyssys Filmdrama Konfrontation (1974). Hirschhorns Arbeit hinterfragt die Neutralität der Schweiz, die sich nicht immer neutral verhält.
Um die Vielstimmigkeit des Modells Neutralität innerhalb der Schweiz zu unterstreichen, begleitet eine Publikation die Ausstellung mit Beiträgen von der Satirikerin Patti Basler über den Schriftsteller Lukas Bärfuss bis zu Ex-Schiedsrichter Urs Meier oder der Journalistin Luzia Tschirky.
Titelbild: Guerreiro do Divino Amor, Teil der Multimediainstallation «Le Miracle d’Helvetia», 2022. Collection Fonds cantonal d’art contemporain, Genève
Bilder: © David Aebi, Burgdorf
Bis 11. Mai 2025
«Modell Neutralität», Aargauer Kunsthaus, Aarau. Weitere Informationen zur Ausstellung und zum Rahmenprogramm finden Sie hier
Publikation, Hrsg. Katharina Ammann und Bassma El Adisey mit verschiedenen Beiträgen, Aarau 2025, CHF 39.00
Toller Bericht, danke Ruth Vuilleumier!