Wer wollte, konnte am letzten Tag des Monats Februar das perfideste öffentliche Spiel der neusten Weltgeschichte verfolgen. Es wurde eine Tragödie aufgeführt, die hervorragend inszeniert war. Donald Trump lud Wolodymyr Selenski zur Unterzeichnung eines Vertrags zur wirtschaftlichen Ausbeutung der Ukraine ein. Er verlangte für geleistete Hilfe der USA eine weit überhöhte Summe in Form von Bodenschätzen. Trump bezeichnete Selenski als einen Diktator und einen nicht gewählten und nicht legitimierten Präsidenten des gebeutelten Landes. Er bemerkte nicht, dass er sich selbst widersprach, als er ihn ins Oval Office aufbot. Mit einem nicht gewählten Präsidenten hätte es an sich nichts zu verhandeln gegeben.
Als Selenski dann in seiner Arbeitskleidung dasass, verdüsterte sich Trumps Miene. Wie konnte der kleine Mann es wagen, ohne Krawatte in den von Trump geheiligten Raum zu treten? Das war kühn. Das Spiel begann wie jedes Drama. Die Figuren behandelten sich freundlich, bis der Vicepräsident J.D. Vance die Frage stellte, ob es nicht angemessen wäre, dem grossen Trump zu danken. Er habe oft gedankt und auch heute wieder, schoss es aus dem Mund des Ukrainers. Nun übernahm Trump das Wort und lobte Putin als verlässlichen Mann. Selenski sei hingegen ein unverantwortlicher Kriegstreiber, habe ohne die USA nichts in der Hand und sei verantwortlich, wenn es zu Millionen Toten komme, zugleich würde er dabei auch noch die Gefahr eines Weltkrieges heraufbeschwören.
Sollte Selenski diese Umkehr der Tatsachen einfach hinnehmen, die Ohrfeige wegstecken, nur um sich dem mächtigsten Mann der Welt unterwürfig, ja kriecherisch darzubieten? Das ging nicht. Er musste kurz und klar erwähnen, dass Putin der Aggressor sei, der den Krieg ausgelöst und zugleich Versprechen nicht eingehalten habe. Diese Antwort stachelte Trump an, das Treffen scheitern zu lassen.
Trump hatte Selenski gedemütigt und damit seine Selbstachtung verletzt. Die war der springende Punkt. Sie Selbstachtung des Menschen ist die tiefste innere Kraft, die lebendig und kräftig reagiert, wenn ein Mensch missachtet, ja angegriffen wird. Sie ist wie der innere, bissige Hund, der zurückbeisst, wenn er angegriffen wird. Trump hatte nicht nur Selenskis Selbstachtung missachtet, vielmehr auch diejenige seines Volkes. So konnte er nicht anders, als Trump zu korrigieren. Alle, die zuhörten oder zusahen, sollten nochmals hören, wer den Krieg begonnen hat. Selenski liess sich in seiner Selbstachtung nicht zurechtbiegen, verlor sich nicht heuchlerischer Diplomatie. Diese wäre Verrat an seinem Volk gewesen.
Die Reaktion von Russlands Eliten auf die Abkanzelung Selenskis von Trump macht deutlich, dass die loyale, korrupte und gefügig gemachte Beamtenschaft jede Selbstachtung längst verloren hat. Bei ihnen ist die Übersetzung von Tatsachen in Lüge selbstverständlich geworden. Sie haben alles verloren, was die Würde eines Menschen auszeichnet.
Selenski reagierte blitzschnell und bewusst sehr klar. Er widersprach dem sich gross wie ein König fühlenden Mann. Er konnte um seiner Selbstachtung willen nicht hinnehmen, was der gönnerhafte Trump behauptete. Dieser benahm sich wie ein Diktator. Anne Applebaum* schreibt in ihrem gut recherchierten Buch «Die Achse der Autokraten» vom Netzwerk der Diktatoren, die gegenseitig besorgt sind, dass sie an der Macht bleiben. Dass Selenski auf seiner Selbstachtung beharrte, machte deutlich, dass Trump die Sprache Putins übernommen hat. Sie zeigt, dass dieser mit dem unterirdischen Wurzelwerk der Diktatoren bestens vertraut ist.
*Anne Applebaum: Die Achse des Bösen. Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten. Siedler. 6. Auflage 2024
In der Tat ein skandalöses und wahrscheinlich auch ein geschichtsträchtiges Treffen im Weissen Haus, das mit einem Eclat endete. Das Gespräch, so es diese Bezeichnung überhaupt verdient, zwischen Präsident Trump, seiner Entourage und den eingeladenen Pressevertretern auf der einen Seite und dem Präsidenten Selenskyi auf dem heissen Stuhl auf der anderen Seite, endete abrupt und liess wahrscheinlich viele Menschen fassungslos zurück. Andreas Iten zeichnet ein konzises Bild des Ablaufs dieses Treffens. Seine Einordnung teile ich weitestgehend, stelle aber mit Erstaunen fest, dass in vielen medialen Berichterstattungen hauptsächlich das Verhalten des eingeladenen Gastes in den Fokus geriet. Viele monierten, dass es Selenskyi an diplomatischem Geschick mangelte. Andere rügten, dass er keinen professionellen Übersetzer für dieses Gespräch beansprucht habe. Wahrscheinlich in der Annahme, eine solche hätte eine diplomatischere Atmosphäre ermöglicht. Es wurde auch vorgebracht, Selenskyi wäre gut beraten gewesen, angesichts der thematischen Wichtigkeit nicht alleine zu erscheinen, sondern sich durch einflussreiche Persönlichkeiten wie Waleri Saluschni, früherer Oberbefehlshaber und heutiger Botschafter in London, oder Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew, begleiten zu lassen. Ob das viel geholfen hätte, ist äusserst fraglich. Ersterer hat sich jedenfalls im Nachgang zum besagten Treffen noch viel härter geäussert als Präsident Selenskyi. Und ob Letzter namentlich in seiner Eigenschaft als ehemaliger Box-Weltmeister klimatisch Einfluss hätte nehmen können, ist auch nicht anzunehmen.
Überrascht bin ich ferner, dass man zum Beispiel in der NZZ von heute (11.03.2023) ganz offen darüber redet, inwieweit Selnskyi für die kommende schwierige Zeit noch die richtige politische Persönlichkeit sein kann. Damit wird die Vermutung Vorschub geleistet, dass der Trump Administration und höchstwahrscheinlich auch dem Kremlführer Putin eigentlich ein willfähriger Präsident genehmer wäre.
Sicher ist Selenskyi nicht makellos. Welcher Mensch ist schon ohne Fehl und Tadel, unter solchen Belastungen? Aber eins darf man doch feststellen. Seit Beginn des Ukrainekriegs im Februar 2022 leistet er einen grossartigen Einsatz unter für uns unvorstellbar schwierigen Bedingungen für sein Land. Wer die täglichen Bilder des Krieges vor Augen hat, sollte eigentlich ermessen können, was das für ein Volk und seine Verantwortungsträger bedeutet. Vielleicht begreift man dann auch, warum Selenskyi nicht einen Anzug mit Krawatte trägt.
Präsident Selenskyi ist es – wie Andreas Iten treffend festhält – unter schwierigsten Umständen und unter Aufbietung aller Kräfte um Selbstachtung gelungen, dem inszenierten Spektakel entgegen zu halten. Möglicherweise müssen auch wir schon bald Ähnliches zustande bringen.
Besten Dank für den Beitrag von Andreas Iten. Einen solchen Artikel habe ich sehnlichst erwartet.
Auch der Kommentar von Bruno Kägi ist treffend. Es gibt nichts zu ergänzen.
Der Mensch und ich glaube auch intelligente Tiere, sind ohne Selbstachtung Lebewesen, die man leicht manipulieren und zu Untertanen machen kann. Weltweit haben Frauen und Männer tagtäglich Gewalt und Demütigungen von Herrschenden hinzunehmen. Ich staune immer wieder, dass die Verletzungen der Integrität, besonders der Frauen, ihre Selbstachtung nicht schon längst zerstört haben. Die Selbstachtung ist die Energie, die uns antreibt um über uns hinaus zu wachsen. Sie gibt uns das Gefühl auf ein erfolgreiches Leben und dazu zu gehören. Geht sie verloren, bleiben wir unter unseren Möglichkeiten und werden zu Mitläufern.
Europa und auch die Schweiz hat sich in den letzten Jahrzehnten den USA immer mehr angebiedert und deren Werte und Weltbild übernommen, ihren Raubtierkapitalismus haben wir uns zum Vorbild genommen. Jetzt sind viele Europäer:innen aufgewacht, Trump sei Dank! Erstmals wird uns von der herrschenden US-Regierung vorgeführt, was ihrer Überzeugung nach zählt: Die Macht einer reichen Elite, die machen kann was sie will, über die Selbstachtung und Würde der eigenen Bevölkerung und anderer Länder hinweg. Die Einwanderer und 40 Mio. in USA lebende Afroamerikaner, ihre Vorfahren wurden im 17. und 18. Jahrhundert aus Afrika verschleppt und für Amerikas wachsende Wirtschaft der Weissen versklavt; sie können ein Lied von Demütigung und Entrechtung singen.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Europäische Union EU gegründet, um die Sicherheit zu schaffen, dass nie wieder eine menschenverachtende Kriegstreiberei und unglaubliches Elend, die das Hitlerregime in Gang setzte, noch einmal erleben zu müssen und den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt auf der Grundlage des Völkerrechts zu sichern. Die Schweiz ist vom Krieg in Europa bisher weitgehend verschont geblieben, haben aber vom zweiten Weltkrieg und seit 70 Jahren vom Frieden infolge des Bündnisses der EU wirtschaftlich profitiert. Wäre es aus Gründen der Dankbarkeit und Solidarität gegenüber unseren Nachbarn nicht endlich an der Zeit, uns diesem Bündnis anzuschliessen, um unsere Verantwortung wahr zu nehmen und für den Kontinent mitzuentscheiden, wohin die Reise gehen soll? Wie können wir guten Gewissens auf unserer Selbstachtung und Selbstbestimmung beharren, wenn wir, wie Trump, nur profitieren wollen?