Am Anfang war noch nicht das Wort, sondern der Buchstabe, dann die Silbe und die Zeichnung, siehe Bild. Vor kurzem war ich im Ortsmuseum jenes Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin und die Schule besucht habe. Dort habe ich zu meiner grossen Freude die erste Lesefibel meines Lebens wieder entdeckt, mit der eine Ordensschwester einer riesigen Schar Siebenjähriger das Lesen beibrachte oder es mindestens versuchte. Ich habe die Fibel geliebt, obwohl die Lesestunden öde waren mit ihrem ewigen Mi-Mi, Li-Li, Ma-Ma, La-La. Meine Schwestern waren schon viel früher die talentierteren Lehrerinnen gewesen. Aber an der Fibel hatte mich fasziniert, dass man ganz offensichtlich Bildchen in Buchstaben stecken oder verstecken konnte und umgekehrt. Lili am Klavier. Mama am Herd. Die Wörter lebten. Im Wort ‘Herd’ loderte ein Feuer und aus dem Wort ‘Klavier’ drangen Töne. Längst konnte ich auch Bach und Baum und alle Wörter der Fibel lesen und schreiben und überlegte mir dabei, welcher Bach durch das Wort Bach floss, ob die Ron oder der Schwarzbach, und beim Wort ‘Baum’ sah ich die kleinen Bäume vor mir, die der Vater vor kurzem gepflanzt hatte. Ich staunte über die Wörter und entflammte für immer für sie.
Das alles ist mir wieder eingefallen im Ortsmuseum. Auch das Lesenlernen meiner Kinder hatte ich wieder präsent. Zwei lernten es wie von selbst, fast über Nacht, das Dritte brauchte etwas länger. Zwar kannte es bald mal alle Buchstaben, aber es dauerte, bis sein Kopf sie zusammensetze. Wieder habe ich seine Stimme im Ohr, die ganz langsam Buchstabe für Buchstabe mit langen Pausen dazwischen ausspricht, sehe seinen Zeigefinger, mit dem es den Buchstaben nachfährt, fange wieder seine verständnislosen Blicke auf, die es mir zuwirft und erinnere seine zunehmende Verzweiflung und schliesslich seine Wut, die darin gipfelte, dass es schrie: Lesen ist doof. Bis es eines Tages nahezu hörbar Klick machte und ab sofort las auch dieses Kind fliessend.
Aus der Lesefibel «Wir lernen lesen», Schweiz. Lehrerinnen- und Lehrerverein Zürich, 1952, 14. Auflage
Faszinierend, was unser Gehirn leistet, wenn wir lesen. Eigentlich denken wir nie daran, welche Funktionen genau aufeinander abgestimmt sein müssen, damit lesen überhaupt möglich ist. Das Gehirn verrichtet seine Arbeit im Hintergrund wie von selbst und meist sehr zuverlässig. Es sei denn, wir ‘verlesen’ uns, was manchmal lustige Wortverdrehungen ergibt.
Die Wissenschaft sagt, wer regelmässig lese, stimuliere die eigenen Gehirnzellen, trainiere seine Denkfähigkeiten und verbessere Wortschatz, Konzentration und emotionale Intelligenz. Alles wunderbar, aber darum kümmern sich Leserinnen und Leser nicht, wenn sie in eine Geschichte versinken und zum Beispiel um eine Figur bangen, die die falsche Entscheidung getroffen hat. Wenn sie für sie hoffen, dass die Reise dennoch gut enden wird, dabei ihre Ängste ausstehen, ihren Schmerz und ihre Scham spüren, sie atemlos begleiten beziehungsweise die Augen über die Buchseiten gleiten lassen und dabei nicht merken, wie die Zeit vergeht. Lesen ist auch mitfühlen. Ist mitphantasieren, denn beim Lesen entsteht die eigene Version der erzählten Geschichte. Jemand anders versteht sie wiederum anders. Lesen lässt manchmal das Herz schneller schlagen und treibt den Blutdruck in die Höhe. Lesen geht in den Körper, ist anstrengend und macht müde und manchmal auch schlaflos. Kein Wunder, denn wie gesagt, die Wörter sind lebendig und immer wach.