Im Zusammenhang mit der politischen Diskussion über «integrierte Versorgung» und «Finanzierung der Betreuung» reden viele von «Betreuung im Alter», nur die Alten nicht. Warum das so ist, zeigt sich im neuen Age-Dossier mitenand und fürenand.
Viele Alte wollen nicht «betreut» werden, weil sie weder Haustiere noch Kleinkinder sind. Selbst wenn sie mit zunehmender Vulnerabilität mehr Unterstützungsleistungen beanspruchen, wollen sie auf gleicher Augenhöhe mit den Unterstützenden jeweils passende Unterstützungsleistungen aushandeln und nicht bloss «betreut» werden.
In den letzten Jahren hat insbesondere Carlo Knöpfel mit seinem Team bedeutende Grundlagenarbeit zur «Betreuung» geleistet. Hingewiesen sei nur auf den «Wegweiser für gute Betreuung im Alter. Begriffserklärungen und Leitlinien» aus dem Jahre 2020 und auf «Kosten und Finanzierung für eine gute Betreuung im Alter in der Schweiz» (2021). In letzter Zeit hat sich folgende Definition herauskristallisiert, die auf breite Akzeptanz stösst: «Betreuung im Alter unterstützt ältere Menschen, ihren Alltag weitgehend selbstbestimmt zu gestalten und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, wenn sie das aufgrund der Lebenssituation und physischer, psychischer oder kognitiver Beeinträchtigung nicht mehr gemäss ihren Vorstellungen selbständig können.» (Stettler, Peter et al. (2023): Betreuung im Alter – Bedarf, Angebote und integrative Betreuungsmodelle. Bern: BSV, S. 5f.).
Gerade diese Definition zeigt, dass es besser wäre, statt von «Betreuung im Alter» von «Sorgekulturen des Alterns» zu sprechen, um die verschiedenen Formen des Sorgens (Selbstsorge, Fürsorge und füreinander sorgen) zu benennen, in denen die Selbstbestimmung und Selbstsorge je nach Vulnerabilität durch Sorgearbeit durch andere ergänzt wird. Da der Begriff der «Betreuung» von «Betreuenden» gebraucht und von «Betreuten» tendenziell gemieden wird, werde ich im Folgenden bei der Besprechung des neuen Age-Dossiers auf den Begriff der Betreuung verzichten und ihn durch Begriffe des Sorgens ersetzen. Dabei beziehe ich mich auf die sechs Handlungsfelder im Phasenmodell Betreuung:
Phasenmodell in Anlehnung an Knöpfel et al. (Age-Dossier S. 8/9, © Age-Stiftung)
Nachbarschaftliches Miteinander
Das Age-Dossier «mitenand und fürenand» bietet eine höchstinformative Übersicht über Formen des Sorgens im Alter in verschiedenen Institutionen, jeweils ergänzt mit lebendigen Porträts von Personen, die mit oder in diesen Institutionen leben. In den Sorgephasen 1 und 2 leben Ältere in ihren eigenen vier Wänden, sorgen für sich und lassen sich bei Bedarf von Familienangehörigen, Nachbarn, Entlastungsdiensten und Freiwilligen unterstützen. Am Beispiel von Vicino Luzern wird gezeigt, wie Ältere sich in ihrer Nachbarschaft an für alle zugänglichen Quartierstandorten treffen und vernetzen. Fredy Blättler von Geschäftsstelle Vicino wird im Age-Dossier wie folgt zitiert: «Die Menschen treffen sich zum Kochen, Essen, Kaffeetrinken, Jassen, Stricken, Turnen, Lesen, Musizieren und Singen sowie für kleinere Weiterbildungen und Informationsanlässe zum Dienstleistungsangebot der Mitgliedsorganisationen.» Ziel ist eine unkomplizierte Geselligkeit für jeden Geschmack, in der man sich über die momentane Lebenssituation und der allfälligen Zuhilfenahme von Unterstützungsleistungen bei Beeinträchtigungen austauschen kann.
Selbständiges Wohnen mit einem Dienstleistungspaket
In der Sorgephase 3 wird beim selbständigen Wohnen der Unterstützungsbedarf für lebensnotwendige Bedürfnisse wie Essen, Mobilität und Pflege grösser und je nach Bedarf durch An- und Zugehörige, durch Entlastungsdienste und die Spitex übernommen. Am Beispiel des Sonnenparks Hochdorf mit altersgerechten Wohnungen für Ältere, die selbständig wohnen wollen, wird aufgezeigt, wie externe Dienstleistungen zur Erleichterung des Alltags in Anspruch genommen werden. So sagt eine Tochter einer 88-jährigen Mutter: «Dass meine Mutter sich für ein Wohnen mit Dienstleistungen entschieden hat, ist für mich eine grosse Entlastung.»
Sonnenpark Hochdorf (© Age-Stiftung, Foto: diktum.ch)
Wohnen im Pflegeheim
Wenn selbständiges Wohnen nicht mehr möglich und der Pflegebedarf hoch ist und niemand rund um die Uhr für stark pflegebedürftige Menschen sorgen kann, können in den Sorgephasen 4 und 5 zunächst intermediäre (Tagesstätten), dann stationäre Einrichtungen sinnvoll sein. An- und Zugehörige sind nach wie vor als Besuchende wichtig, der Hauptteil der Sorgearbeit wird aber von medizinischen Fachpersonen und Aktivierungspersonal geleistet. Auch hier ist die Selbstsorge wichtig, die Bewohnenden sind nicht bloss Empfänger von Dienstleistungen. Eine Frau (86) vom Senioren- und Gesundheitszentrum Ursern bleibt auch in einer stationären Einrichtung trotz hohem Pflegebedarf aktiv und äussert sich im Age-Dossier so: «Mittlerweile benötige ich einen Rollator. Weil ich dank ihm wieder mobiler bin, nehme ich an den geführten Spaziergängen des Seniorenzentrums nicht teil – ich ziehe auf eigene Faust los. Bei den anderen Aktivitäten bin ich hingegen sehr gerne dabei: Wir basteln, stricken, kochen, spielen Lotto, singen und machen Gymnastik- und Gedächtnisspiele. Auf diese Weise kann ich mich fit halten. Ich würde sogar sagen. Das vielseitige Programm ist der Grund, weshalb ich mich hier so wohlfühle.»
Seniorenzentrum Ursern in Andermatt (Foto: zVg. Senioren- und Gesundheitszentrum Ursern)
Hohe Lebensqualität für sterbende Menschen
Die meisten Menschen möchten zuhause sterben, nicht selten sind Angehörige aber überfordert. Für die Begleitung in der Phase 6, der letzten Lebensphase, gibt es immer mehr spezialisierte Palliative-Care-Angebote. Im Age-Dossier mitenand und fürenand erhalten Interessierte Einblick in das Hospiz Schönbühl in Schaffhausen. Eine Partnerin, die ihren an Darmkrebs erkrankten Mann fast vier Jahre zuhause, die letzten vier Tage im Hospiz Schönbühl begleitete, sagte dazu im Age-Dossier: «Bei unserer Ankunft fiel mir eine Zentnerlast vom Herzen.»
Partnerin eines Sterbenden im Hospiz Schönbühl (© Age-Stiftung, Foto: diktum.ch)
Eine 82-jährige Frau verbringt ihre letzten Lebenstage ebenfalls im Hospiz Schönbühl und sagt im Age-Dossier: «Nun muss ich von allem Abschied nehmen. Das dünkt mich schon etwas schwer. Meine Familie möchte, dass ich noch einmal für ein Mittagessen nach Hause komme. Das nützt mir nichts. Ich will nicht immer wieder Abschied nehmen, nochmals und nochmals und nochmals. Ich möchte auch nicht, dass man mich fragt, wie es mir geht. Es geht mir immer gleich oder schlechter, nie besser. Lieber ist mir, wenn die Leute fröhlich sind und lieb.»
Das Age-Dossier mitenand und fürenand vom März 2025 ist sehr lesenswert, weil alle 6 Phasen des Phasenmodells lebensnah veranschaulicht werden. Dabei werden vier vorbildliche Institutionen vorgestellt, die alle von der Age-Stiftung unterstützt wurden. Zudem liefern die Porträts von älteren Menschen besten Anschauungsunterricht, wie in allen Phasen des Alterns ein dynamischer Sorgemix von Selbstsorge, Fürsorge und füreinander Sorgen eine hohe Lebensqualität ermöglichen kann.
Es ist zu wünschen, dass dieses Dossier nicht nur von Älteren gelesen wird, sondern auch von jüngeren Angehörigen, so dass sie sich ein Bild machen können, was sie selbst beitragen können zu einer schönen Sorgekultur für ihre Lieben. So ganz nebenbei kann man dabei auch lernen, für sich selbst besser zu sorgen. In vielen Regionen sind die Angebote aber noch suboptimal und Dienstleistungspakete oder Wohnortswechsel können die eigenen finanziellen Möglichkeiten übersteigen. Aber selbst wenn es keine finanziellen Engpässe gibt, ist es nicht einfach, je nach Lebenssituation und persönlichen Präferenzen den jeweils passenden Mix von Selbst- und Fürsorge, von Rückzug und sozialem Kontakt zu finden.
Download des Age-Dossiers mitenand und fürenand
Titelbild: Treffpunkt im Vicino Luzern (© Age-Stiftung, Foto: diktum.ch)
Alle Fotos aus dem Age-Dossier mitenand und fürenand
Bravo Beat. Mehr dazu aus dem welschen Sprachraum wo man sogar von «prise en charge» spricht. Lesenswert Anne-Marie Nicole’s «Die Bedeutung von Wörtern», https://www.artiset.ch/files/1C521A9/aeltere_menschen_koordiniert_betreuen_magazin_artiset__12_2024.pdf, SS 10-12,