Rund zwei Jahre lang war das Fotomuseum Winterthur geschlossen. Nach 26 Monaten Sanierung und Erweiterung wird es mit der Ausstellung «The Lure of the Image», welche «zeitgenössische Formen als digitale Verführungskünstlerin» zeigt, wiedereröffnet.
Zwar hat das neue Museum praktisch die gleiche Ausstellungsfläche, doch wurde ein neues flexibleres Raumkonzept realisiert, mit dem die Ausstellung thematisch besser aufgeteilt werden kann. Es konnten auch neue Workshop-Räume, sowie ein neues Fotolabor und eine begehbare Camera obscura eingerichtet werden.
Das Foyer präsentiert sich einladender und übersichtlicher. Ausser dem Museumshop gibt es auch eine Ecke mit einer bequemen Sitzgruppe.
Mit den Umbau- und Sanierungsarbeiten ging auch eine Modernisierung der Infrastruktur einher, welche neue Möglichkeiten der Ausstellungsgestaltung bietet. «Das Medium der Fotografie hat sich in den letzten Jahrzehnten mit unglaublicher Geschwindigkeit verändert», sagt Nadine Wietlisbach, Direktorin Fotomuseum Winterthur. «Wir begleiten und diskutieren diesen Wandel und dessen Auswirkungen gleichermassen befragend und mit Begeisterung – in unserer Eröffnungsausstellung ‘The Lure of the Image – Wie Bilder im Netz verlocken’ und darüber hinaus.»
The Lure of the Image – Wie Bilder im Netz verlocken
Wie locken oder betören uns Bilder, die online zirkulieren? Wie fesseln, steuern oder täuschen sie uns? Die vierzehn künstlerischen Positionen in der Ausstellung setzen sich mit visuellen Phänomenen auseinander, die online als Vehikel für Kommunikation, Kritik oder Komik dienen. Sie veranschaulichen, welch zentrale Rolle Bilder in der Gestaltung unserer sozialen, kulturellen und politischen Umgebung spielen.
Die Schau lädt dazu ein, die visuellen Welten von Social-Media-Feeds, Dating-App-Profilen, Beauty-Filtern, Memes, ASMR-Videos, cute (niedlichen) oder cursed (verfluchten) images, Emoji, computergenerierten Bildern oder pixeligen Screenshots zu erkunden, die als Verschwörungstheorien oder als Protestmittel gleichermassen zum Einsatz kommen können. Dabei legen die künstlerischen Arbeiten die komplexen Mechanismen der Verführung im digitalen Raum offen und beleuchten, wie Bilder und die ihnen zugrunde liegenden Strukturen – von Algorithmen bis zu Datensätzen – unsere Aufmerksamkeit lenken, Gefühle provozieren und Meinungen beeinflussen.
Sara Cwynar: Scroll One, Videoessay, 2020
Die Besuchenden werden im ersten Raum mit der Videoshow von Sara Cwynar ins Thema eingeführt. Der Videoessay lässt unterschiedlichste Gegenstände und Bilder aus den Bereichen Kunstgeschichte, Werbung, Mode, Design und Journalismus in einem kontinuierlichen, geradezu hypnotischen Bewegungsfluss an uns vorbeiziehen.
Viktoria Binschtok: Digital Semiotics, 2024-2025
Viktoria Binschtok setzt sich mit ihrer Arbeit Digital Semiotics mit der Omnipräsenz von Emojis in der digitalen Kommunikation auseinander. Binschtok richtet ihren Blick dabei auf die permanente Weiterentwicklung der Bedeutungsebenen der Emojis um zu beleuchten, wie diese den öffentlichen Diskurs prägen oder politische Zensur unterlaufen können.
Jenny Rova: A Milf Dream – My Matches on Tinder, 2024
Jenny Rova lotet mit ihren handgefertigten Fotocollagen unter dem Thema A Milf Dream – My Matches on Tinder ihr eigenes Beziehungsleben aus mit Schnittstellen von Intimität, Selbstdarstellung und dem fotografischen Blick. In ihren Collagen bringt sie fotografische Elemente aus den Profilen ihrer Tinder-Matches zusammen und verwandelt sie in Projektionen potenzieller romantischer und sexueller Beziehungen.
Im gleichen Raum sind mehrere Installationen von Joiri Minaya zusehen, mit denen sie sich mit karibischer Identität, damit verbundenen Stereotypen und körperbezogenen Politiken auseinandersetzt.
Michael Mandiberg: Taking Stock, 2024
In Taking Stock wertet Michael Mandiberg mithilfe maschinellen Lernens 130 Millionen Stockfotos aus Bilderbanken aus, um daraus hypnotische Videosequenzen und dichte, vielschichtige Fotografien zu kreieren, die Muster visueller Gleichförmigkeit in den Datensätzen offenlegen. Während diese Bilder vorbeiflimmern, lassen sie ein geisterhaftes Porträt entstehen, das deutlich macht, inwiefern unsere visuelle Kultur von einer kapitalistischen Ideologie heimgesucht wird, die unsere Vorstellungen von Normalität mitbestimmt, Vorurteile am Leben erhält und systembedingte soziale Ungleichheiten verstärkt und verfestigt.
Blick hinter die Kulissen in der Lure Lounge
Die Lure Lounge lässt einen Blick hinter die Kulissen des kuratorischen Rechercheprozesses von «The Lure of the Image» zu. Eine Karte, die Schlüsselbegriffe und Konzepte sowie vernakuläre Neologismen darstellt, vermittelt einen Eindruck davon, wie das Thema Lure (Verlockung) im Zusammenhang mit online zirkulierenden Bildern samt deren zeitgenössischen sozialen und politischen Implikationen angegangen wurde. Hier können die Besuchenden aktiv an der Forschung zum Thema mitzuwirken: Es liegen Bücher aus, die mit Randbemerkungen versehen sind und verschiedene Denkprozesse des kuratorischen Teams illustrieren.
Dina Kelberman: The Wave, 2025
Für The Wave hat Dina Kelberman auf lnstagram Tausende ASMR-Videos (Autonomous Sensory Meridian Response) von Schwämmen gesammelt, auf denen Hände mit Gummihandschuhen zu sehen sind, die innig mit seifigen Schwämmen spielen – die sie zusammendrücken, aufschäumen und auseinanderzupfen. Die immersive Videoinstallation, welche die Videos in ihrer Wirkung von «beruhigend» bis «grob» anordnet und stark vergrössert auf einander gegenüberliegende Wände projiziert, resultiert in einer Kakophonie aus Klängen und Bildern.
Noura Tafeche: Annihilation Core Inherited Lore, 2023f
In Annihilation Core lnherited Lore untersucht Noura Tafeche, wie eine Ästhetik der Niedlichkeit online als Waffe eingesetzt wird, um militärische Propaganda und Gewalt zu verbreiten. Auf der Basis von vier Jahren Forschung und ausgehend von einem Archiv mit über 30’000 Dateien zeigt Tafeche, wie pastellfarbene Plüschtiere, Manga-Fan-Art und Rehaugen dazu genutzt werden können, um kriegerische Botschaften, sexualisierte Gewalt, die Fetischisierung von Waffen und Alt-Right-ldeologien zu verbreiten. Die Installation wirft ein Schlaglicht darauf, wie die vermeintlich unschuldigsten Formen visueller Mainstreamkultur von schädlicher Propaganda infiziert sein können.
Unberührte Landschaften, wunderschöne Blumen und lavendelfarbene Sonnenuntergänge – so zauberhaft und unschuldig die Bilder in der Installation #Ingrid von Zoé Aubry auf den ersten Blick auch scheinen, so grausam ist die Realität, die hinter ihnen steckt. Der Titel #Ingrid verweist auf Ingrid Escamilla Vargas, eine junge mexikanische Frau, die 2020 von ihrem Ehemann brutal ermordet wurde.
Als korrupte Behörden Fotos ihres verstümmelten Körpers an die örtliche Presse weitergaben, die diese auf ihren Titelseiten mit Überschriften wie «Amor war schuld» veröffentlichten, protestierte die Öffentlichkeit gegen diese voyeuristische und sensationsheischende Berichterstattung. Die Welle der Solidarität setzte sich in den sozialen Medien mit der Hashtag-lnitiative #lngridEscamillaVargas fort.
Der Katalog präsentiert sich als Ringordner
In der Ausstellung sind ausserdem Arbeiten von Sara Bezovšek, Éamonn Freel x Lynski, Simone C Niquille, Jon Rafman, Hito Steyerl und Ellie Wyatt zu sehen.
Titelbild: Das Fotomuseum Winterthur erstrahlt in neuem Glanz. Auffallend ist die neu gestaltete Fassade mit grösserer Rampe und einem Vordach
Situationsbilder: © Urs Tillmanns / Fotointern
Bis 12. Oktober
Weitere Informationen finden Sie hier: Fotomuseum Winterthur
Das Begleitbuch, ein Ringordner, zur Ausstellung ist in englischer Sprache. Spector Books, Leipzig 2025, ISBN 078-3-95905-914-5