Der Basler Schriftsteller Alain Claude Sulzer hat bei den Literaturtagen den Solothurner Literaturpreis erhalten – Blumenstrauss, Ansprachen, Musik, Laudatio wie es sich gehört; hier die Dankesrede des Preisträgers, eine sprachspielerische Umarmung des Publikums als Möglichkeit.
Die Jury begründet ihre Wahl so: Alain Claude Sulzer (*1953), seit vier Jahrzehnten als Autor unterwegs, schreibe «unbeirrt und immun gegenüber kurzfristigen Trends. Verdrängtes holt er nüchtern und behutsam zurück ans Licht und beweist mit jedem Werk seinen Willen zur Form und ein unvergleichliches Gespür für Sprache und Stil.»
Das Personal der Literaturpreisfeier beim Erinnerungsfoto auf der Theaterbühne
Im gut besetzten Theatersaal machen es sich Leute aus der Stadt Solothurn – Stadtpräsidentin Stefanie Ingold wird reden – Freundinnen und Bekannte aus der Literaturszene und der Jury sowie zahlreiche aus dem diversen Publikum der Literaturtage bequem. Sie könnten das Jury-Urteil gewiss unterschreiben, nachdem sie Sulzers Rede gehört haben. Stil hat der Schriftsteller auch bei der Musikwahl gezeigt: Weltklassepianistin Ylan Zhao spielte wunderbar, obwohl sich das Klavier eher für Westernklassiker eignet.
Nicola Steiner, Zürcher Literaturhaus-Chefin und bekannt vom Fernsehen, führte als Laudatorin und Freundin des Autors in das Werk ein, das nicht schreie, sich nicht aufdränge, das im Spannungsfeld zwischen bürgerlicher Existenz und der Flucht daraus stehe, in dem viel geliebt und gelitten werde. Hier nun Alain Claude Sulzers Dankesrede, von der wir hoffen, sie macht Ihnen ebenso viel Spass wie am Sonntag dem Publikum im Solothurner Stadttheater:
Alain Claude Sulzer bei der Dankesrede in der Möglichkeitsform
«Stellen Sie sich vor, Sie stünden hier an meiner Stelle auf dieser Bühne. Sie wüssten, genau wie ich, schon seit einem halben Jahr davon und hätten sich seither immer neue Dinge überlegt, die Sie hier oben sagen könnten. Möglichst etwas Originelles.
Nun, vermutlich würden Sie zunächst die Anwesenden begrüßen, dann würden Sie sich bei der Jury bedanken und deren Begründung loben, weil Sie ihr langjähriges literarisches Tun und Lassen darin widergespiegelt sehen (das täten Sie aus Höflichkeit auch dann, wenn es gar nicht der Fall wäre). Sie würden sich bei der Laudatorin für ihre Laudatio bedanken, die zu schreiben ihr hoffentlich leicht fiel, und bei Ihrem Verleger für seine ungebrochene Solidarität und langjährige Freundschaft, und dann noch das eine oder andere mehr oder wenige Ausgefallene oder Abgedroschene sagen, bevor Sie sich wieder von der Bühne entfernten, um dort unten zwischen denen Platz zu nehmen, die, wie Sie, den Preis in Wahrheit nicht erhalten haben. Spielend hätten Sie sich in die Haut dessen versetzt gehabt, der sich in diesem Augenblick tatsächlich immer noch da oben auf der Bühne befindet. Sie sind es also nicht, der hier oben steht. Vielleicht möchten Sie es aber sein – wegen des Preisgeldes –, oder Sie möchten es auf gar keinen Fall sein, weil Sie die Bücher, die der da oben schreibt, nicht mögen oder gar nicht kennen oder Preisen gegenüber ohnehin grundsätzlich skeptisch eingestellt sind, oder weil Sie ganz andere Bücher schreiben würden, wenn Sie könnten, oder jede Menge ganz anderer Bücher geschrieben hätten, wenn Sie hier oben stünden; vermutlich wären sie auch eine Frau. Die geschätzte Jury und die Laudatorin hätten deshalb natürlich ganz andere Formulierungen gefunden, um Ihrer Literatur gerecht zu werden. Doch diese Bücher kennen nur Sie; ich, der ich sie Ihnen soeben angedichtet habe, habe keine Ahnung, wofür Sie eigentlich den Solothurner Literaturpreis erhalten haben – Sie und nicht ich, der ich Ihnen den Preis womöglich ein wenig neiden würde, so wie Sie ihn mir vielleicht ein wenig neiden, der Sie in diesem Augenblick gern in meiner Haut stecken würden und nicht in Ihrer eigenen, wegen des Geldes und wegen der Ehre, je nachdem, was Ihnen wichtiger ist …. Ich muss jetzt aufpassen, mich nicht zu verzetteln und die geschätzte Gewogenheit der Anwesenden zu verscherzen.
Machen wir es also kurz: Ich wollte Ihnen eigentlich in wenigen Sätzen nur erzählen, wie es ist, wenn man sich – in diesem Fall viel flüchtiger als in einem Roman – in eine oder mehrere Personen versetzt, die man nicht ist, denn tatsächlich haben nicht Sie sich in die Person da oben versetzt, sondern die Person da oben, der Autor Alain Claude Sulzer, war so frei, das zu tun, was er ja ständig tut: Er hat sich in verschiedene Personen hineinempfunden, die er nicht ist. Er tat es, indem er sich Gedanken, die niemand anderer als er selbst sich ausgedacht hat, aneignete, um daraus einen Text, Teil einer Rede, zu machen, der bestenfalls räumlich nah an der Wirklichkeit – diesem hübschen kleinen Theater – ist. Der Rest ist Illusion.
Nicht Sie haben sich also in die Haut des Preisträgers versetzt, sondern dieser hat ein paar mögliche Gedanken in den Kopf einer oder mehrerer Gestalten, eines Hirngespinsts gepflanzt, Gedanken, bei denen es sich um nichts weiter als Unterstellungen, Behauptungen, Fiktionen handelt. Ich habe mir erlaubt, mir etwas anzueignen, was sich an der Realität bedient, obwohl es außerhalb der Realität liegt, womit wir bei einem Wort sind, das in letzter Zeit bei manchen Zeitgenossen immer wieder für Verwirrung sorgte, obwohl Literatur ohne dieses nicht denkbar ist, ja ihren Namen nicht verdient: Aneignung. Denn selbst wer lebenslänglich ausschliesslich über sich schreibt, kommt nicht umhin, in Kategorien zu denken, die nicht seine eigenen sind, indem er unterstellt und wertet, wie und warum andere auf ihn eingewirkt haben. Auch er eignet sich fremde Gedanken an, die in Wirklichkeit reine Vermutungen sind.
Wir befinden uns auch in diesem Augenblick wie in der Literatur im Schattenbereich zwischen Realität (hier in diesem Theater) und Literatur (hier das Blatt Papier, von dem ich ablese, auf dem sich das – jedenfalls für mich Wesentliche – dieses Augenblicks abspielt, also das, was der sagt, der da oben steht und der sie nicht sind und in dessen Haut Sie vermutlich auf keinen Fall stecken möchten, schon gar nicht in seinem Kopf, denn Sie haben Ihre eigenen Vorstellungen von Dankesreden und können dem, was der da oben eben von sich gegeben hat, möglicherweise absolut nichts abgewinnen). Dann lesen Sie eben seine Bücher und vergessen diese Rede.
In der noch eines fehlte: Der herzlichste Dank an die Jury und die Sponsoren dieses Preises.»
Und wir danken dem Schriftsteller Alain Claude Sulzer, der uns erlaubt hat, seine Dankesrede für den Solothurner Literaturpreis zu veröffentlichen.
Titelbild: Laudatorin Nicola Steiner übergibt dem Laureatus unter grossem Applaus die Preisurkunde samt Blumenstrauss
Fotos: E. Caflisch
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