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Gabriele Widmer – Schneiderin aus Leidenschaft

«Ich nähe Ihnen Ihren Traum» heisst es auf der Webseite von Gabriele Widmer. In ihrem Schneideratelier in Schlieren kann man sich seine Kleider anfertigen, ändern oder reparieren lassen. Oder auch in Nähkursen unter kundiger Begleitung selbst nähen.

Auf das Schneideratelier von Gabriele Widmer in Schlieren ZH wurde ich aufmerksam wegen des Hauses. Darin lebte bis 1914 die Familie meines Grossvaters, der im Erdgeschoss eine Schreinerwerkstatt eingerichtet hatte, die über hundert Jahre bestehen blieb, mit wechselnden Inhabern. Das sanft renovierte Gebäude hat sich äusserlich kaum verändert. Erst 2011 zog ein Schneideratelier ein. Meine Schwester besuchte dort einen Nähkurs. Ein Anstoss für mich, mehr über dieses Atelier und seine Betreiberin zu erfahren.

Das Haus mit der einstigen Schreinerei meines Grossvaters im Jahr 1914 (links) sieht heute mit dem Schneideratelier von Gabriele Widmer noch fast gleich aus (rechts).

Schon um sieben Uhr morgens betrete ich das Atelier. Um den Morgenstau zu umgehen, öffnet Gabriele Widmer frühzeitig, denn sie wohnt weiter weg im Aargau. Um diese Zeit sind wir für unser Gespräch ungestört. Im hellen luftigen Raum stehen grosse Arbeitstische, Nähmaschinen, Kleiderständer mit bunten Kleidern, einzelne Modelle an Büsten, Spiegel, eine Umkleidekabine. Hier wird gearbeitet.

Gabriele Widmer vor der Büste mit einer Sommerjacke, die sie einmal für ihre Grossmutter genäht hatte.

Weil ihre Gotte Handarbeitslehrerin war und mit ihr als Kind viel nähte, wollte Gabriele dies auch werden. Dafür machte sie zuerst eine Lehre als Schneiderin. Zuerst in einem privaten Atelier, das nach einem Jahr in Konkurs ging, dann bis zum Lehrabschluss an der Schweizerischen Frauenfachschule für Mode und Gestaltung in Zürich, heute Modeco. Noch während der Lehre absolvierte sie die Berufsmaturität. Trotz guter Noten wurde sie nicht als Handarbeitslehrerin aufgenommen, weil ihr der Sekundarschulabschluss fehlte. «Ich bin am falschen Ort», resümierte sie.

Sie entschied sich für eine Weiterbildung in Modedesign, wo neben Modezeichnen auch die industrielle Verarbeitung von Schnittmustern und Textilien gelehrt wurde. Danach arbeitete sie während zwei Jahren als Modellnäherin für das Schweizer Label AKRIS in Zürich: «Ich nähte für Models, die in der Schweiz und im Ausland über den Laufsteg liefen», erklärte sie in einem Interview. Wie überall in dieser Branche war der Betrieb streng strukturiert, verbunden mit viel Stress und kleinem Lohn. Der Maximallohn betrug 3500 Franken. «Doch hier lernte ich für mein Leben», sagt sie, «ohne diese Erfahrung könnte ich mein eigenes Atelier nicht so professionell führen.»

Schnittmuster erstellen, Kleider abformen und Zuschneiden muss gelernt sein und braucht viel Präzision. Ein falscher Schnitt und teure Stoffe sind wertlos.

Von einer Kollegin, die mit dem zweiten Kind schwanger war, konnte sie deren Atelier übernehmen, ein kleiner Raum hinter einem Coiffeursalon. Nun hatte sie 23jährig für monatlich zweihundert Franken ihr erstes eigenes Atelier. Mit Begeisterung übernahm sie während acht Jahren alle nur denkbaren Aufträge, «auch das Flicken von Polstermöbeln», sagt sie.

Als der Coiffeursalon aufgegeben wurde, fand sie eine Zwischenlösung. Dort durften allerdings die Teppichböden nicht entfernt werden, was für eine Schneiderei mit den vielen anfallenden Fäden, Fuseln und Stecknadeln ungünstig ist. 2011 kam sie an einem Anlass des Gewerbevereins Schlieren mit einem Schreiner ins Gespräch, der bereit war, seinen Showroom mit ihr zu  teilen, bis sie den Raum ganz für ihr Schneideratelier nutzen konnte.

Schneideratelier Gabriele Widmer an der Uitikonerstrasse 29 in Schlieren ZH.

Erhält sie einen Auftrag für ein Kleid, spricht Gabriele Widmer mit der Kundin oder dem Kunden ausführlich über die Wünsche. Am liebsten hat sie, wenn diese ein Lieblingsstück mitbringen und etwas in der Art genäht haben möchten. Doch manchmal kämen sie mit fixen Vorstellungen von einem Kleidungsstück, das sie irgendwo gesehen haben, das aber überhaupt nicht zu ihrem Typ passt. Werden sie sich aber einig, schickt die Schneiderin sie zum Einkaufen des gewünschten Stoffes. «Eine Neuanfertigung ist immer ein gemeinsames Projekt», meint sie, «das bis zur Fertigstellung regelmässig besprochen wird.»

Modelle von Gabriele Widmer. Foto: Gabriele Widmer

Ihre Kleider sind sorgfältig verarbeitet und von hoher Qualität. Die Wertschätzung gegenüber den Kleidern und dem Handwerk ist ihr wichtig. Die meisten ihrer eigenen Kleider näht sie selber, stets mit gutem Material, ohne schädliche Farbstoffe, womit etwa blaue und schwarze Jeans gefärbt werden. Wenn eine Lieblingshose zu eng wird, lässt sich diese erweitern. Es freut sie besonders, wenn eine Kundin ein Kleid bringt, das sie ihr vor zwanzig Jahren einmal genäht hat, um etwas ändern zu lassen. Das bestätigt auch das Lob, das sie kürzlich bekam: «Sie arbeiten so perfekt.»

Modelle von Gabriele Widmer. Foto: Gabriele Widmer

Ein schwieriges Kapitel ist mitunter der Preis. Da die Kleider in den Läden oder online so billig zu haben sind, verstehen die Leute oft nicht, warum eine von ihr genähte Hose an die fünfhundert Franken kostet. Näherinnen im fernen Osten arbeiten unter prekären Bedingungen. Die massenhaft hergestellte Ware wird billig exportiert. Da kann ein Atelier in der Schweiz mit den hier anfallenden Kosten nicht mithalten. Und Gabriele meint etwas bitter, «der Service für das Auto in der Garage wird doch auch fraglos bezahlt.» Allgemein ist der Lohn von Schneiderinnen tief. Als typischer Frauenberuf wird er im Vergleich zu Schreinern, einem ähnlichen Berufssegment, schlechter entlöhnt.

Kleiderstangen mit selbst gefertigten Kleidungsstücken, auch abholbereiten Änderungen und Reparaturen.

Änderungen und Reparaturen gehören zu ihren Lieblingsarbeiten. Diesbezüglich erhält sie mitunter Aufträge von einem grossen Unternehmen. «Sie wertschätzen meine Arbeit und sind auch bereit, den ‘gerechten’ Preis zu zahlen», sagt sie. Nicht wie kürzlich ein Mann, der nicht verstand, warum das Flicken seiner zwischen den Beinen abgewetzten Hose mehr als zehn Franken kosten sollte. Oder eine Frau, die für das Ersetzen eines Reisverschlusses fand, das koste mehr als das Kleid selbst.

Blick ins Schneideratelier

Dies ist auch der Grund, warum sich Gabriele Gedanken macht, ob sie die letzten fünfzehn Jahre noch als Unternehmerin arbeiten will. Als Angestellte in einem Betrieb hätte sie, meint sie, «ein stressfreies Umfeld und Ausfälle von Ferien und Krankheit wären auch bezahlt.» Denn als selbständig Erwerbende verdient sie dann nichts.

Gabriele Widmer beim Nähen

Am Mittwochabend bietet sie jeweils Nähkurse an. Oft ermuntert sie die Kundinnen, das gewünschte Kleid im Kurs selbst zu nähen. In ihrem Atelier hat es Platz für vier Lernende. Nähkurse erteilt sie besonders gerne, weil sie mit den Teilnehmenden die Projekte besprechen und begleiten kann. Sie findet auch, dass die alten Nähmaschinen mit Jahrgang um 1980 die besten sind, zumal immer noch ein Service angeboten wird. Der dreistündige Abendkurs kostet bei ihr fünfundsiebzig Franken pro Person, da lässt sich keine goldene Nase verdienen. Dennoch meint sie: «Mein Beruf gefällt mir immer noch gut. Es ist ein schöner Beruf, auch wenn man viel arbeiten muss».

Fotos: rv

Hier geht’s zur Webseite von Gabriele Widmer

 

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