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Lesen hat stets Saison

Draussen regnete es, aber in einer Quartierbuchhandlung im Osten Berlins hockte noch die stickige Hitze der letzten Tage. Gibt es Bücher, die kühlen, überlegte ich, während ich einen jungen Mann beobachtete, der vor dem Regal stand, das für ‘Sommerlektüre’ warb. Er war ausser mir der einzige Kunde und schon vor mir da gewesen. Ich schaute zu, wie er ein Buch nach dem andern in die Hand nahm, einen Blick auf das Cover warf, den Klappentext überflog und zum nächsten griff. Brauchst du Hilfe, fragte die Buchhändlerin, die nun zu ihm trat. Die beiden tauschten einen Blick.

Hilfe brauche er nicht, aber vielleicht Beratung, sagte er lächelnd. Sie lächelte zurück und ich fragte mich, ob das in einer Buchhandlung nicht dasselbe sei, Hilfe oder Beratung. Dann entdeckte ich ein Buch, dessen Titel mich anzog: «Alles, wovor ich Angst habe, ist schon passiert». Ich versank in seine Lektüre und folgte dem Gespräch der beiden nicht weiter. Erst, als der junge Mann mit einem Buch unter dem Arm schon im Türrahmen stehend sich nochmals umdrehte und in Richtung der Buchhändlerin sagte: Das heisst, du arbeitest jeden Samstag hier?, horchte ich wieder hin. Richtig, antwortete sie, nur nächsten Samstag nicht. Dann feiert eine Freundin Geburtstag, irgendwo in Brandenburg, und ich bin eingeladen.

Also sehen wir uns in zwei Wochen wieder, sagte er. Sie nickte lächelnd, warf nun mir einen Blick zu, ich lächelte auch und wies mit dem Kopf in Richtung Tür, wo der junge Mann noch immer stand. Los, seid mutig, dachte ich, zwei Wochen sind zu lang, um erst dann wieder am feinen Gespinst weiter zu weben, das sich eben entwickelt zwischen euch. Aber die beiden winkten sich bloss nochmals zu, dann trat der Mann hinaus in den Regen und entfernte sich rasch. Zu gern hätte ich gehabt, dass sie sich richtig verabredet hätten. Dass sie gesagt hätte: Möchtest du vielleicht mitkommen zum Geburtstag meiner Freundin, und er hätte gefragt: Wie ist sie denn so, deine Freundin? Und sie hätte geantwortet, und er hätte weiter gefragt und sie hätte mit einer Gegenfrage reagiert. In meinem Kopf entstand bereits eine Geschichte, die zwar nicht kühlte, im Gegenteil, während die Frau, die offenbar bloss samstags hier jobbte, wieder hinter dem Tresen sass und in einem abgegriffenen Buch las mit dem Titel «Am Strand». Ob sie immer saisonal lese, fragte ich und legte jenen Roman, von dem ich bereits zehn Seiten gelesen hatte, auf den Tresen, um ihn zu bezahlen. Die Frau schaute hoch zu mir. «Am Strand» sei ein Roman, den sie immer wieder lese, jahreszeitenunabhängig. Dann warf sie einen Blick auf den Roman, den ich gewählt hatte und sagte: Angst hat immer Saison. Ich nickte und sie deutete auf das Regal mit den Sommerbüchern.

«Ich fahre nirgendwo hin in Sommerurlaub», sagt die Buchhändlerin zu unserer Kolumnistin. «Ich reise lieber lesend durch alle Klimazonen.» (Bilder: Theres Roth-Hunkeler)

Leichte Kost, sagte sie, verlangen die Menschen für ihren Urlaub. Etwas Heiteres, Fröhliches, das einen nicht runterzieht. Urlaub ist ja oft schon schwer genug, erwiderte ich lachend. Allerdings, stimmte sie mir zu. Es gibt auch Kunden, die verlangen Spannendes. Ein Pageturner, meistens ein Krimi voll dunkler Geheimnisse und viel Action. Vermutlich, weil Urlaub oft langweilig ist, Strandurlaub vor allem. Überall Sand, es knirscht sogar, wenn du ins Sandwich beisst, das du dir verstohlen am Frühstücksbuffet des Hotels zubereitet hast.
Wohin sie denn in den Urlaub fahre, fragte ich. Nirgendwohin, sagte sie und machte mit ihren Armen eine raumgreifende Bewegung. Sie reise lieber lesend durch alle Klimazonen. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der eben hier gewesen sei, teile sie Bücher nicht in Sommer-und Winterlektüre ein, eine reine, aber für den Buchhandel nötige Marketingmassnahme. Dann bedachte sie mich erneut mit einem Lächeln, das ich nur halbherzig erwiderte. In der Realität, das erlebte ich eben, laufen Geschichten anders als in meinem Kopf. Aber schreiben könnte ich sie vielleicht.

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2 Kommentare

  1. liebe Frau Hunkeler
    Vielleicht lese ich mal einen Krimi von Ihnen? Ihre Geschichte ist sehr fein und es wäre doch ein toller Einstieg für einen Roman.
    Mit hellen Sommergedanken
    Katrin Gossenreiter

  2. Liebe Frau Gossenreiter, danke für Ihre Reaktion, die mich freut. Wer weiss, was aus dem kleinen Text noch wird, allerdings bestimmt kein Krimi, das ist ein Genre, in dem ich mich nicht auskenne, weder lesend noch schreibend. Herzliche Grüsse, Theres Roth-Hunkeler https://roth-hunkeler.ch

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