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Das Coming-out einer Seniorin

Die 77-jährige Tereza lebt und arbeitet in einer kleinen Industriestadt am Amazonas, bis eine offizielle Regierungsanordnung verlangt, die Alten hätten in Seniorenwohnheime zu ziehen. Sie aber weigert sich und macht sich auf eine Reise. Der Brasilianer Gabriel Mascaro schuf mit seinem Spielfilm «Tereza – O Último Azul» erstens ein Roadmovie einer alten Frau und zweitens eine Parabel über einen dystopischen gesellschaftlichen Prozess.

«Tereza – O Último Azul» ist auch die Satire einer Gesellschaft, welche die Alten zwangsweise aus der Öffentlichkeit verbannt. Dieser Institution widersetzt sich die resolute Tereza und sucht für sich einen Ausweg. Und sie bricht auf, denn sie will unbedingt einmal im Leben fliegen. Untergetaucht beginnt sie ihren Trip mit einem etwas zwielichtigen Skipper, begegnet später einer veritablen Kapitänin und kooperiert schliesslich mit einer Nonne, die Bibeln verkauft, ohne an Gott zu glauben. Sequenz um Sequenz rückt die Geschichte vom Alltäglichen und Normalen ab, wird kritisch und geheimnisvoll und Teil der exotischen Fauna und Flora des Amazonas und seiner Nebenflüsse.

Auf den 75. Internationalen Filmfestspielen von Berlin hatte der bildgewaltige und kraftvolle Film Weltpremiere und wurde mit dem Silbernen Bären und dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet. Neben der grossartigen Denise Weinberg als Tereza spielen Rodrigo Santoro als Cadu, Miriam Socarrás als Roberta und Adanilo als Ludemir ihren Part ebenbürtig, unterhaltsam und dennoch hintergründig. Entstanden ist ein hypnotisches Erlebnis, dem man sich hingibt und das man so schnell nicht vergisst.

Tereza.2.Cadu pflegt und wird gepflegt 

Die Zukunft gehört allen! Oder doch nicht? 

Die staatliche Propaganda verspricht eine Zukunft für alle. Doch Tereza macht Widerstand, weil sie es nicht glaubt und zudem sich einen lang verschwiegenen Lebenstraum erfüllen will. Ihr Roadmovie beginnt über Umwege auf dem Amazonas, obwohl sie am Ende ein Flugzeug besteigen möchte. Doch alles ist besser als die propagierte Seniorenwohnsiedlungen. Denn dort wären die Alten von den Jungen, die das Leben mitgestalten, abgeschottet, einsam, ohne Sinn und ohne Aufgabe, welche schon bisher immer auch eine Gabe war. 

«Tereza – O Último Azul» zeigt von Szene zu Szene, von Abenteuer zu Abenteuer die stille Kraft des Widerstands und der Resilienz, die, wenn nötig, in jedem Alter geweckt werden kann. Der Film thematisiert, unkonventionell und zupackend, den Unsinn dieser offenen und teils auch versteckten Altersdiskriminierung. Er lässt den Konflikt zwischen individuellen Wünschen und staatlicher Regulierung verstehen und die Selbstbestimmung, Lebensfreude und Kreativität auch der Seniorinnen und Senioren auf- und ausleben.

Gabriel Mascaro macht dies auf witzige, gelegentlich provozierende, schliesslich gar verrückte Art. Verrückt, wie es der Wortsinn meint: abgerückt von der Gewohnheit und Norm. Darin besteht wohl auch die Moral des Films: Es gilt, die vielen Verordnungen und Reglemente zu hinterfragen, zu kritisieren und im besten Fall – was der Film brillant und exemplarisch tut – zu brechen.

Das leisten die etwas ausgeflippten Protagonistinnen und Protagonisten mit ihrem Schauspiel, das eingebettet ist in teils verträumten, teils surrealen Landschaften und überdrehten Situationen, unter anderem in einem Urwald-Casino. Dafür setzen sich auch die Mitwirkenden hinter der Kamera mit Bravour ein: Gabriel Mascaro mit dem Drehbuch und der Regie, Guillermo Garza an der Kamera, Memo Guerra mit der Musik und Sebastian Sepúlverda und Omar Guzmán mit der Montage.

Tereza.3.Roberta und Theresa 

Aus einem Interview mit Regisseur Gabriel Mascaro 

Für mich ist «Tereza – O Último Azul» ein Film über das Recht zu träumen. Im Mittelpunkt steht eine ältere Protagonistin, eine Frau, die sich weigert, das Schicksal zu akzeptieren, das jemand anderes für sie vorgesehen hat, in diesem Fall der Staat. Mir schwebte eine Ode an die Freiheit vor, und ich wollte eine rebellische Siebzigjährige zeigen, die sich gegen die arrangierte Isolation in einer Seniorenkolonie zur Wehr setzt, die signalisiert, dass es nie zu spät ist, eine neue Bedeutung im Leben zu finden.

Ich hoffe, dass «Tereza» ein Film ist, der auf unterhaltsame Weise mit Genres spielt. Anstatt mich an ein einziges Genre zu halten, wollte ich ein Zusammenspiel zwischen dem Lyrischen und dem Verspielten in einer Art post-tropischem Delirium schaffen, das einige dieser starren Grenzen aufbricht. 

Das spielerische Ausloten von Genres ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit, das Erforschen möglicher Risse und des Potenzials, das sie innerhalb der narrativen Tradition offenbaren. Ich habe eine besondere Vorliebe für Filme, die fantastische Ideen als Grundlage nehmen und daraus die Möglichkeit einer Realität formen, die gleichzeitig aber durchaus real sein könnte. 

Die Herausforderung bestand darin, sich eine mögliche Welt auszudenken, die ungewöhnlich und einzigartig für die Welt des Films ist – angesiedelt weder in der Vergangenheit, der Gegenwart noch der Zukunft. 

Hier wollte ich auch die Vitalität des alternden Körpers zeigen. Der Film spielt in einer von Produktivität und Effizienz besessenen Gesellschaft, in der ältere Bürger:innen aufgefordert werden, sich ab einem bestimmten Alter aus der Gemeinschaft zurückzuziehen. Für mich ist es eine fast dystopische, aber gleichzeitig inspirierende Fabel, die von Tereza erzählt. Sie lehnt diese «soziale Euthanasie» ab und begibt sich auf eine Reise, auf die Suche nach Freiheit und einem lang gehegten Traum. Ihre Reise beginnt erst richtig, als sie auf ihrer Flucht in ein Boot steigt, das sie tief in den Amazonas und tief in ihre eigene Seele führt. 

Tereza.1.Landschaften als Sinnbilder 

Ich denke, «Tereza – O Último Azul» thematisiert indirekt viele ernste und brisante aktuelle Probleme, insbesondere im Zusammenhang mit der Vertreibung von Menschen, Gruppen oder Ethnien aus ihrer Heimat im Namen eines staatlichen Projekts.

Es geht um ältere Menschen, die aus der Gesellschaft entfernt werden, aber es spricht auch viele andere Bevölkerungsgruppen an. Von Gentrifizierung über die Vertreibung indigener Gemeinschaften von ihrem Land zum Zwecke wirtschaftlicher Ausbeutung bis hin zu Kriegen um Territorium, während reiche Länder von Waffenverkäufen profitieren, und von der Behandlung von Flüchtlingen und Einwanderern, die aufgrund von Konflikten oder Unterdrückung gezwungen sind, ihre Länder zu verlassen. 

Vor allem wollte ich aber einen Film machen, der sich leidenschaftlich mit der Gegenwart auseinandersetzt, der davon erzählt, wie vielfältig unsere Lust am Leben sein kann. Ein Film über eine Frau – eine Mutter, Grossmutter, älter, aber dennoch nicht auf eine feste Identität festgelegt. Tereza verkörpert den Wunsch, diese Reise zu erleben, die Bereitschaft, neue Identitäten auszuprobieren und neue Erfahrungen zu machen, auf einzigartige, originelle und undogmatische Weise.

Titelbild: Tereza, die Aussenseiterin, die für uns zur Insiderin wird

Gespräch mit Regisseur Gabriel Mascaro

Regie: Gabriel Mascaro, Produktion: 2025, Länge: 86 min, Verleih: Xenix

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