Diesen Satz höre ich häufig, zum Beispiel im Zug. Oft stammt er aus dem Mund eines älteren Mannes, der ins Erzählen gekommen ist. Oft beginnen seine Sätze mit ‘damals’, ‘seinerzeit’ oder ‘früher’. Und meist richten sie sich an eine Reisebegleiterin, die immer wieder geduldig nickt, bisweilen ein ‘genau’ einstreut und dazu in ihrer Tasche wühlt, auf der Suche nach einem Taschentuch oder einem belegten Brot, das sie schon zu Hause in zwei Hälften geschnitten hat. Dann kauen die beiden, und zwischen zwei Bissen nimmt der Mann den Faden wieder auf und sagt: Was ich alles erlebt habe… Und wie sich doch die Zeiten geändert haben. Nur schon, wenn ich so denke, was unser Vater damals verdient hat… Seine Begleiterin sagt wie auf Kommando: «Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben.» Daraus schliesse ich, dass sie alles, was der Mann sagt, nicht zum ersten Mal hört.
Dann schaut der Mann ein Weilchen aus dem Fenster und gerät dabei wieder ins Sinnieren. «Ein ganzes Buch könnte ich schreiben», sagt er zum dritten Mal, die Frau zuckt die Schultern und ich bin versucht zu sagen: So tun Sie es doch! Natürlich sage ich es nicht. Ich mische mich nie ein in fremde Gespräche, belausche sie bloss und mache manchmal Notizen, ins Handy, das ist unauffällig.
Die Frage aber beschäftigt mich schon lange. Trägt nicht jeder Mensch Geschichten mit sich herum, die aufzuschreiben sich lohnen würde?
Angenommen, Sie tun es, Sie schreiben also dieses Buch, das Sie mit sich herumtragen, Ihr Lebensbuch gewissermassen, denn es handelt ja von Ihnen, für wen tun Sie es? Und mit welchem Ziel? Zu welchem Zweck? Für die Enkelkinder, so Sie welche haben? Weil Sie endlich berühmt werden möchten? Sind Sie sicher, dass sich jemand für das, was Sie schreiben, interessiert? Wer soll lesen, was Sie geschrieben haben? Gibt es nicht schon zu viel Geschriebenes auf der Welt? Wahre Bücherschwemmen und eh zu viele, die schreiben und zu wenige, die lesen? Lauter Fragen, die Ihnen bestimmt durch den Kopf gehen und immer wieder verhindern, dass Sie beginnen. Tun Sie es trotzdem. Fangen sie an. Auch wenn Sie ziemlich sicher nicht berühmt werden. Auch wenn dieses ganze Buch, das Sie schreiben könnten, nie ein Buch werden und nie erscheinen wird. Muss es auch nicht. Vielleicht sind es nur ein paar Seiten, egal. Und selbst wenn niemand lesen wird, was Sie geschrieben haben: Tun Sie es für sich selbst. Erzählen Sie sich selbst, schriftlich. Sie werden sehen, es ist schwer und leicht zugleich. Es nervt und es macht Freude. Manchmal müssen Sie während des Kochens schnell was aufschreiben, damit der Gedanke nicht verloren geht. Immer häufiger müssen sie im Internet etwas nachschauen. Ab wann zum Beispiel gab es Kleidergeschäfte und kamen die Störschneiderinnen aus der Mode? Wie viel kostete ein Brot in den Sechzigerjahren? Sie geraten vom Hundertsten ins Tausendste, die Zeit fliegt und Ihr Kopf summt.
Für Menschen, die sich gerne austauschen und die offen sind für Hilfestellungen und Tipps, gibt es Kurse für biografisches Schreiben. Aber erwarten Sie nicht, dass Sie dort lernen, wie Sie einen Bestseller schreiben.
Meine Mutter, Jahrgang 1916, hat während vieler Jahre in grossformatigen Kalendern das Wetter festgehalten. Manchmal hat sie notiert, welche Arbeiten sie zusammen mit dem Vater und dem Angestellten auf dem Hof erledigt hat. Selten eine Notiz zu Verwandtenbesuchen. Immer wieder blättere ich in ihren Kalendern. Sie hätte ein ganzes Buch schreiben können…


Einfach toll!
Du hörst, worüber andere sich Gedanken machen, du nimmst es auf, du animierst immer wieder zum schreiben, weil du weisst, dass dieser schatz, den jede/r in sich trägt , so viel wert ist! Deine mutter hätte so freude an dir!! Weiter so…..,
Insbesondere für unsere Kinder habe ich ein Buch geschrieben. Die folgenden Überlegungen haben mich dazu bewogen:
– Ich bereu es sehr, dass ich mich zu Lebzeiten meiner Eltern nicht mehr für ihr Leben interessiert habe. Ich hätte dabei sicher viel Interessantes über ihre Probleme insbesondere während dem 2. Weltkrieg erfahren können. Rückblickend ist mir natürlich auch klar, dass ich mit meinem eigenen Leben beschäftigt war und der Kontakt zu meinen Eltern nicht den heutigen Verhältnissen entsprach. Dennoch habe ich rückblickend grossen Respekt für das, was sie für meinen Bruder und mich geleistet haben.
– Möglicherweise geht es unseren Kindern einmal ebenso, auch sie haben ihre eigenen Probleme und das Leben der Eltern ist dabei eher Nebensache. Ich gehe aber von der Annahme aus, dass auch sie einmal zum Punkt kommen, an dem sie sich fragen, wie das Leben ihrer Eltern war und wie sie es gemeistert haben. Ich hoffe, dass ich ihnen mit diesem Buch rückblickend einen kleinen Einblick in unser Leben ermöglichen kann.
Danke dir, Anne, ich freue mich über deinen Kommentar. Zu ihren Lebzeiten hatte meine Mutter allerdings nicht immer Freude an mir… aber das ist wohl der Lauf der Dinge…
Lieber Herr Odermatt, danke für Ihre Überlegungen. Hoffentlich regt Ihr Buch Ihre Kinder dazu an, Fragen zu stellen – eben jene Fragen, die viele Menschen aus unserer Generationen den eigenen Eltern nicht gestellt haben. Aus Scheu, aus Zurückhaltung, weil man die Eltern schonen wollte, weil man über Gefühle und Persönliches nicht sprach usw.