Jung sein kann schwierig sein. Wenn man unsicher ist, zwar liebevolle Eltern aber ansonsten wenig Kontakte hat und plötzlich in etwas hineinschlittert, das verlockend, aber gefährlich ist. Und den Eltern nicht gefallen wird. Die grosse alte Dame des deutschen Kriminalromans, Ingrid Noll, beschreibt diese Adoleszenzphase so plastisch, als wäre sie selbst 15. Dabei wurde sie kürzlich 90!
Luisa ist ein wohlbehüteter Teenager, eine gute Schülerin, keine Konflikte mit den Eltern, eigentlich rundum zufrieden. Dass sie adoptiert ist, aus einem anderen Kulturkreis stammt, beschäftigt sie nicht sonderlich. Sieht ja jeder: tiefschwarze Haare, rundes Gesicht, etwas platte Nase – sie ist eine Fremde. Aber eine angepasste, zufriedene. Auch wenn sie in der Schule eher eine Einzelgängerin ist. Aber sie ist hilfsbereit, hilft auch mal bei Hausaufgaben oder lässt abschreiben.
Eine Besonderheit hat Luisa: Sie kann im Dunkeln sehen. So scharf wie mit einem Nachtsichtgerät. Oder wie eine Eule. Deshalb nennt ihr Vater sie auch liebevoll Nachteulchen. Ja, der Vater. Der hat ein Problem. Denn Luisa hat ein Telefongespräch belauscht: Ihr Vater wird Vater! Das macht ihr Sorgen. Was ist, wenn er dieses «neue» Kind dann viel lieber mag als seine «angenommene» Luisa. Und was wird ihre Mutter zu diesem Familienzuwachs sagen? Weiss oder ahnt sie, dass ihr Mann sich anderweitig vergnügt? Und was wird dann aus ihr, aus ihrem Familienleben?

Das wären grosse Fragen, wenn da nicht noch ein anderes Problem wäre: Luisa hat bei ihren nächtlichen Streifgängen durch den nahen Wald einen jungen Mann kennengelernt, einen «Landstreicher» ohne festen Wohnsitz, der da unter Bäumen sein Lager aufgeschlagen hat. Luisa, die wahlweise Polizistin oder Sozialarbeiterin werden möchte, spürt ihn mit ihren Eulenaugen auf. Und lässt sich noch so gerne als Helferin einspannen: Sie schmiert ihm so viele dick belegte Brote, dass sich ihre Mutter bereits sorgt, ihr etwas klein geratenes Töchterchen mutiere zum Fettklösschen. So, wie sie plötzlich regelmässig den Kühlschrank leert.
Eine Spätberufene
Hier ist nun ein Verweis auf die Autorin nötig: Ingrid Noll hat jahrelang ihrem Mann in der Arztpraxis geholfen, Kinder bekommen und aufgezogen, ein normales Familienleben geführt. Erst als die Kinder ausgeflogen sind und das Kinderzimmer leer stand, richtete sie sich dort mit Mitte 50 eine Schreibstube ein und schrieb ihren ersten Kriminalroman. «Der Hahn ist tot». Der Diogenes Verlag veröffentlichte diesen überaus erfolgreichen Erstling – und die «Krimikönigin» mit den leisen Tönen und dem schwarzen Humor war geboren.
Ihre Bücher nennt sie selbst «Psychogramme» und ihr neustes Werk ist da keine Ausnahme. Wie sie die Nöte und Zweifel – und die Verstrickungen mit einem Hauch von erster Liebe – der noch kindlichen Luisa beschreibt, ist so einfühlsam, dass man sich selbst rückversetzt sieht in diese Zeit an der Grenze vom Kind zur Frau.
Verstrickungen
Luisa ist ein intelligentes, fantasievolles und gewitztes Mädchen und sieht nicht nur im Dunkeln scharf: Ihr Schützling aus dem Wald ist keineswegs ein Chorknabe, das merkt sie schnell. Aber auch der Verdacht – oder letztlich das Wissen – er könnte ein Dieb, Mörder, Brandstifter und Lügner sein, hält sie nicht davon ab, ihn im Elternhaus unterzubringen. In der Sauna im Keller. Was ihm schliesslich zum Verhängnis wird, als Luisas Vater sich mal spontan entscheidet, das Schwitzbad zu nutzen.
Wieder ist es Luisa, die dem jungen Mann hilft, einen Ausweg zu finden. Spürt sie doch ganz stark, dass der «Verbrecher» nicht von Natur aus böse ist, sondern ganz tief innen ein verletzlicher, unglücklicher Mensch. Es ist ein schwerer Weg für das Mädchen, vom «Engelchen», das sich fast willenlos manipulieren lässt, zu einer Nothelferin, die dieses Geheimnis mit niemandem teilen kann. Eine schwere Lungenentzündung ist da so etwas wie ein Deus ex Machina und hilft ihr, zurückzufinden zum Leben eines ernsthaften, wohlbehüteten normalen Teenager.
«Nachteule» ist ein typischer Noll-Krimi. Doppelbödig und böse, aber gleichzeitig zutiefst menschlich. Hellsichtig eben, auch im Dunklen.
Ingrid Noll: Nachteule. Diogenes Verlag 2025.
Ingrid Noll ist am Sonntag, 9. November, im Rahmen eines Bernhard Litteraire in Koproduktion mit Orell Füssli im Bernhard Theater in Zürich zu Gast. Das von Monika Schärer moderierte Gespräch beginnt um 11 Uhr.

