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Kulturwandel im Gesundheitswesen?

Muss in einer Zeit des langen Lebens mit zunehmendem Pflege- und Betreuungsbedarf das Gesundheitswesen reformiert werden? Markus Leser ist seit seiner Pensionierung als Geschäftsführer bei Curaviva im Februar 2024 freischaffender Consultant im Altersbereich und äussert sich zu Fragen eines Kulturwandels im Gesundheitswesen.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat im Namen des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) die Erstellung eines Berichts über „Betreuung im Alter“ in Auftrag gegeben mit der Begründung, „Betreuung“ von Menschen im Alter habe in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Im Vorwort des im Dezember 2023 erschienenen Berichts über Betreuung im Alter – Bedarf, Angebote und integrative Betreuungsmodelle schreibt Astrid Wüthrich, Vizedirektorin des BSV: „Der politische Wille ist eindeutig: Menschen im Alter sollen so lange wie möglich zu Hause leben können. Entsprechend gross ist daher die Herausforderung für die Versorgung mit Betreuungsdienstleistungen.“ Markus Leser hat sich freundlicherweise bereit erklärt, mit Seniorweb Empfehlungen des Berichts zu diskutieren.

Seniorweb: Der erste Satz in Empfehlung 4 des Berichts lautet: „Die Einführung integrativer, personenzentrierter Modelle erfordert einen Kulturwandel im Altersbereich.“ Im Vorwort des Berichts wird zudem gesagt, dass Menschen im Alter so lange wie möglich zu Hause leben können sollen. Ergibt sich daraus nicht, dass der Gesundheitsstandort par excellence in einem langen Leben weder das Spital noch das Pflege- oder Altersheim ist, sondern der Privathaushalt? Wie sehen Sie das?

Markus Leser: Das ist eine der Kernaussagen des Berichts und es braucht diesen Kulturwandel unbedingt: Weg von der Angebotsorientierung, hin zur bedarfsgerechten Personenzentrierung! Das heisst, es geht darum herauszufinden, was am besten für eine bestimmte Person ist. Wohnen zuhause oder im Heim wird je nach Bedarf der betreffenden Person entschieden. Der politische Slogan „Ambulant vor stationär“ greift zu kurz. Personenzentrierung bedeutet auch, dass vor allem die Frage entscheidend ist, wo die beste Lebensqualität für eine bestimmte Person erreicht werden kann. Und das kann am angestammten Wohnort sein, oder in einem Heim oder in anderen Wohnsettings. Kulturwandel heisst, dass wir die beste Wahl einer Leistung für die älteren Menschen in den Fokus nehmen müssen.

Im „Gesundheitsstandort Privathaushalt“ sind die hauptsächlichen Leistungserbringer der alternde Mensch aus Eigeninteresse selbst und seine betreuenden An- und Zugehörigen. Erst in zweiter Linie kommen die in Art.35 Abs.2 des KVG (Krankenversicherungsgesetz) sogenannten „Leistungserbringer“ wie medizinisches und pflegendes Personal und Institutionen wie Spitäler, Pflegeheime, Laboratorien usw. zum Zug, wenn professionelle Unterstützung und Entlastung der pflegenden und betreuenden An- und Zugehörigen unabdingbar sind. Müssen denn pflegende und betreuende An- und Zugehörige in Zukunft finanziell entschädigt werden für ihre Leistungen? Jedenfalls lässt die Empfehlung 1 des Berichts sowas erahnen: „Der Bund bzw. das BSV soll die Initiative für die Weiterentwicklung der Altersbetreuung übernehmen und zusammen mit den Kantonen (SODK) eine gemeinsame Strategie entwickeln. Im Rahmen der Strategie sollen schweizweit vergleichbare rechtliche Grundlagen zur Betreuung im Alter geschaffen oder weiterentwickelt werden und schweizweit die Finanzierungsweisen geklärt, vereinfacht und möglichst harmonisiert werden.“ Gibt es hier bereits konkrete Vorstellungen?

Diese Empfehlung des Berichts zeigt auf, dass hier noch viel zu tun ist. Der Bund sollte m.E. auch den Lead übernehmen, um die Fragmentierung im Gesundheitswesen und in der Pflege und Betreuung zu überwinden. Wer bezahlt was wofür und wer ist wofür zuständig, ist oft umstritten oder wird „wie die heisse Kartoffel“ weiter gereicht. Ich unterstütze die Stossrichtung des Berichts, dass der Bund den strategischen und damit auch den finanztechnischen Lead haben muss. Die Zelebrierung des Föderalismus im Gesundheitswesen bringt uns nicht weiter. Es ist sehr zu wünschen, dass das BSV zusammen mit der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) und auch der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) eine einheitliche Lösung entwickelt. Denn Gesundheit und Soziales gehören menschlich ohnehin zusammen.

Kann damit die Fragmentierung im Gesundheitswesen überwunden werden?

Die Fragmentierung führt dazu, dass zu wenig personenzentrierte Leistungen erbracht werden. Einerseits haben wir, wie dies auch im Bericht erwähnt wird, Konkurrenzsituationen unter den Leistungserbringern. Anderseits haben wir Ressourcenprobleme, denn eine Vernetzung und ein koordiniertes Angebot verlangen viele Ressourcen, Zeit und Absprachen. Ein Netzwerk für eine koordinierte Versorgung zu unterhalten, ist nicht einfach und benötigt auch die erforderlichen Kompetenzen.

Erfreulicherweise hat der Vorstand der SODK im Januar 2021 eine „Vision der SODK für das selbstbestimmte Wohnen von betagten Menschen und Menschen mit Behinderungen“ beschlossen, die den „Gesundheitsstandort Privathaushalt“ weiter konkretisiert. Könnte das BSV zusammen mit der SODK nicht in folgenden Bereichen aktiv werden:

  1. Schaffung eines Finanzierungssystems für Betreuung und Pflege für ein langes Leben zuhause in Ergänzung zum KVG, wie oben schon erwähnt?

Ja, insbesondere sind Betreuungsleistungen nicht finanziert.  Die Paul Schiller Stiftung kämpft seit längerer Zeit für eine stärkere Berücksichtigung der Betreuung in finanzieller Hinsicht, aber auch für das Schaffen von Rahmenbedingungen, damit professionelle Anbieter mit Laien aus der Verwandtschaft, dem Freundeskreis, der Nachbarschaft und Freiwilligen besser zusammenspielen. Wir müssen aus meiner Sicht Zusammenarbeitsformen entwickeln, die Caring Communities ermöglichen.

  1. Förderung von Massnahmen, damit der „Gesundheitsstandort Privathaushalt“ nicht in den „eigenen vier Wänden“ Einsamkeit produziert, sondern sozialräumlich ausgeweitet wird mit Einkaufs-, Begegnungs-, Partizipationsmöglichkeiten ausserhalb der „eigenen vier Wände“.

Ja, die „eigenen vier Wände“ sind immer sozialräumlich zu verstehen, es braucht den persönlichen Rückzugsraum, eingebettet in die sozialräumliche Umgebung. Zudem kann es sein, dass das Wohnen in den „eigenen vier Wänden“, in Abhängigkeit vom persönlichen Bedarf, ändert. „Die eigenen vier Wände“ sind also nicht notwendigerweise die Räumlichkeiten, die in den letzten 30 Jahren bewohnt wurden, sondern dort, wo die individuelle Lebensqualität den aktuellen Umständen entsprechend am höchsten ist. Beispielsweise sind aufgrund eingeschränkter Mobilität oder anderer Beeinträchtigungen allenfalls neue „eigene vier Wände“ zu suchen.

Noch optimierbare Sozialraumgestaltung in einem Quartier (Foto aus Freepik)

  1. Erweiterung der Gesundheitsförderung im Alter nicht nur durch Sensibilisierung für gute Ernährung und gesundheitsfördernde Bewegung, sondern vor allem durch eine sinnvolle Alltagsgestaltung. Elemente einer solchen sinnvollen Alltagsgestaltung könnten Betreuungs-, Pflege- und weitere Unterstützungsleistungen von sogenannten „fitten Älteren“ für hochbetagte Menschen im Quartier sein. Müsste da nicht in der Ausbildung in der Pflege und auch in der Sozialarbeit das Coaching von Laien durch Professionelle stärker verankert werden?

Ja, sinnvolle Alltagsgestaltung für hochbetagte Menschen ist wichtig, jedoch sind die Bedürfnisse je nach Person sehr unterschiedlich. Weiterbildung und Unterstützung der Angehörigen und der Freiwilligen durch Fachpersonal ist eine wichtige Voraussetzung für eine möglichst personenbezogene und sinnvolle Alltagsgestaltung. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels fördern sorgende Gemeinschaften im Quartier die Lebensqualität von stark beeinträchtigten Personen und können dadurch zu einer wertvollen Stütze werden. Das Coaching und die Begleitung von Laien durch Fachpersonen muss aber auch finanziert werden. In diesem Sinne ist das auf S. 63 des Berichts dargestellte Modell der integrativen Betreuung ein sehr guter Ansatz.

Screenshot aus S. 63 des Berichts

4. Welche weiteren Akzente sind aus Ihrer Sicht dringlich?

Wie das oben abgebildete Modell zeigt, liegt nun ein weiteres brauchbares Modell der integrativen Betreuung vor und es gibt durchaus gute Ansätze für deren Umsetzung (vgl. z.B. das Programm Socius der Age-Stiftung.) Für die Umsetzung müssen alle Beteiligten involviert werden und es empfiehlt sich, dass die Koordination durch eine übergeordnete Stelle erfolgt. Wenn etablierte Organisationen die Koordination übernehmen, besteht oft die Gefahr, dass sich aufgrund – der bereits erwähnten Konkurrenzsituation – andere benachteiligt fühlen können. Eine gute Möglichkeit ist, dass z.B. Gemeinden mit ihren Altersbeauftragten die Koordinationsaufgaben übernehmen.

Markus Leser, besten Dank für das Gespräch!

Titelbild: Porträt von Markus Leser (zVg)

Dr. phil. Markus Leser ist Gerontologe und war bis 31.01.24 knapp 21 Jahre bei Curaviva Schweiz tätig. Zunächst als Leiter des Fachbereiches Menschen im Alter, resp. als Geschäftsführer und zum Schluss als Senior Consultant. Seit 01.02.24 ist er pensioniert und gründete zu Beginn der Pensionierung eine eigene Consultingfirma (markusleser.ch). Zudem engagiert er sich im Verwaltungsrat der Heime Kriens AG sowie im Stiftungsrat der Age-Stiftung.

Vgl. auch den Artikel über den Bericht mit den 5 Empfehlungen bei Seniorweb.

 

 

 

 

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1 Kommentar

  1. Endlich gehts mal etwas konkreter, wenn auch ziemlich langsam, in Richtung Anpassungen für ein adäquates Leben im Alter. Ich befürchte nur, dass alles wie gewohnt, wieder viel zu akademisch, umständlich und mit teuren Folgen und wenig pragmatisch angegangen wird.
    Was es dringend braucht, sind flächendeckende, individuelle und niederschwellige Angebote für Betagte, die noch in ihren Wohnungen bleiben wollen und können, jedoch für gewisse Hilfen, wie Sozialberatung, Unterstützung im Haushalt, medizinische Grundversorgung und auf lebenserfahrene Menschen zugeschnittene Kulturangebote in ihrer Nähe angewiesen sind und der Alltag erheblich erleichtern würde.
    Die nordischen Länder haben diese Art des Service public schon seit Jahren umgesetzt und dafür landesweit entsprechende Strukturen geschaffen. Man muss das Rad nicht neu erfinden und könnte von anderen Ländern lernen. Es muss ja keine Seniorencity sein, wie es sie in Kalifornien gibt, wo zwar alles auf die alten Menschen zugeschnitten ist aber die Leute nur unter sich bleiben.

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