Aus Lust und Glück und Seligkeit ist „fun“ geworden
Alles könnte damals auch so gewesen sein: Eines schönen Tages traf der Sklave Leonidas den Bürger Epikur, von dem die einen hier in Athen behaupteten, er sei ein Taugenichts, ein fieser Lustmolch gar. Andere sagten über ihn, er sei ein lebensfroher, geistreicher und weiser Mann. Vermutlich ein Philosoph. Ob er mit ihm über seine Schwierigkeiten reden dürfe, fragte Leonidas. „Ja, doch nicht hier auf der Straße“, antwortete ihm Epikur. „Am besten morgen früh in meinem Garten. Da treffen wir uns regelmässig, Männer und Frauen, Junge und Alte, Herren und Sklaven. Und wenn du willst, dann können wir über das reden, was dein Leben so schwierig macht“.
Abgemacht. Als Leonidas am nächsten Morgen in Epikurs Garten kam, hatte er mit allem, was er hier sah und hörte, nicht gerechnet. Ouzo wurde ausgeschenkt, Sirtaki getanzt und im Gras unter den Obst- und Olivenbäumen sassen Männer und Frauen, Junge und Alte, Herren und Sklaven, buntgemischt. Und einer davon war nun er: Leonidas.
Er hörte Epikur zu: „Wenn wir aber sagen, dass Lebensfreude der Zweck des Daseins ist, so verstehen wir darunter nicht die Freuden der Schwelger noch die gemeinen Leidenschaften, wie es uns aus Unwissenheit, Widerspruchsgeist oder boshafter Verleumdung nachgesagt wird, sondern wir erzielen damit, den Körper vom Schmerz, die Seele vom Leid zu befreien“. Auf dem Heimweg ging Leonidas dieser Satz nicht mehr aus dem Sinn. Er wünschte sich, so bald wie möglich ein Epikureer zu werden.
Opfer übelster Nachrede und Fehlinterpreation
Der griechische Philosoph Epikur lebte ca. 340-270 v. Chr. und war über die Jahrhunderte hinweg Opfer übelster Nachrede und vorsätzlicher Fehlinterpretationen. Das lag vor allem daran, dass er neue Gedanken und Begriffe in die Philosophie einbrachte wie zum Beispiel „hèdonè“. Also Glück. Um es zu erleben, muss man sich die Freiheit nehmen, sich nicht bedrängen oder fesseln zu lassen von Göttern und Naturgesetzen, sich nicht vor ihnen, nicht vor Schicksalsschlägen und despotischen Menschen fürchten.
Auch: „Ich wüsste nicht, was ich mir überhaupt noch als ein Gut vorstellen kann, wenn ich mir die Lust am Essen und Trinken wegdenke, wenn ich die Genüsse der Liebe verabschiede und wenn ich nicht mehr meine Freude haben soll an der Musik und den schönen Künsten.“
„Die schönste Frucht der Selbstgenügsamkeit ist Freiheit“
In Epikurs Philosophie finden sich auch Begriffe wie z. B. „Nie Gesetze brechen“ – „Gute Sitten nicht verletzen“ – „Autonomie“ – „Freundschaft“ – „Seelenstärke, die den Tod nicht fürchtet“ – „Sinnlichkeit und das Freisein von jeder Störung, jeder Unlust“ – „Die Seligkeit des körperlichen Genusses“ – „Heitere Besinnlichkeit und Beschaulichkeit“.
Hat alles nichts geholfen. Wer gegen Epikur war, ist es fast immer auch geblieben. Schon der römische Staatsmann Cicero sah sich gezwungen, für ihn Partei zu ergreifen: Frei und lustvoll zu leben heisse doch keineswegs, sich unersättlich, gedanken-, scham-, und gewissenslos zu verhalten. „Es ist ein unausrottbares Vorurteil zu glauben, Epikurs Schule sei ausschweifend, üppig und verweichlicht.“
„Was will dieser Schwätzer sagen?“
Die Kirchen haben Epikurs Philosophie nie anerkannt. Schon darum nicht, weil der Apostel Paulus um‘s Jahr 50 in Athen auf Philosophen traf, darunter „Epikureer“ (Apostelgeschichte) die sich mit ihm stritten und ihn einen „Schwätzer“ nannten.
Das nahmen nicht nur die beiden grossen Kirchenlehrer, Augustin und Thomas, Epikur übel und hielten von dessen Philosophie –? Nichts!
Man hat zumeist Anstoss genommen allein schon an dem Wort „Lust“, an dem gedanklichen Verdacht, dass mit Begriffen wie Lust, Glück und Seligkeit, mit „Glückseligkeit“ also, nichts anderes gemeint sein kann als sexuelle Lust, lustbetonte Sucht, orgiastische Vergnügungen, wollüstige Ausschweifungen, sündhafte Erotik und andere ‚pikante‘ Konstellationen.
Die katholische Kirche meint(e), Epikurs Philosophie „Von pflichtlosen Glück“ dürfe nicht zugelassen werden, da Lust, Glück und jene sinnliche Seligkeit niemals zur guten Schöpfung Gottes gehörten. Besser wir bleiben lustfeindlich.
„Wer Furcht verbreitet, ist selbst nicht ohne Furcht“
Erst im 15. Jahrhundert wagte es der katholische Philosoph und Humanist Lorenzo Valla, Epikurs Lehre auch den Christen zu empfehlen. „Von der Lust oder vom wahren Guten“ lautete der Titel jener Schrift, die Valla 1431 veröffentlichte. Er rehabilitierte die Sinnlichkeit und die „souveräne Lust“, verbunden damit ist der Gedanke an eine autonome Wendung zur Innenwelt. Für ihn ist die Lust eine das Leben steigernde Kraft, eine der erstrebenswertesten Gaben Gottes und die schönste überhaupt. Gegen Lorenzo Valla wurde ein Verfahren vor der Inquisition eingeleitet.
Die Philosophie des Epikurs ist eine der drei grossen individualistischen Philosophien der Antike, die bis in unsere Gegenwart Bestand hat. Epikur wird oft und gern zitiert von jenen, die ebenfalls über das Glück nachdenken, über den Weg dahin, über das Lustprinzip und die Lebenslust, über die Selbstsorge und über die Kunst zu leben und zu lieben.
Lust, Glück und Seligkeit sind heute im öffentlichen Leben zu „fun“ geworden. Das heisst zum Auslöser eines leichten Erregungszustandes, sofern man bereit ist, den Preis dafür zu zahlen.