Tiere entdecken und benennen ist eine abenteuerliche Geschichte nicht nur für Naturkundler
Mit der Kunst der Benennung führt Michael Ohl, Biologe am Museum für Naturkunde Berlin seine Leserinnen und Leser in eine spannende, exotische, mitunter skurrile Welt der Namensgebung für Tiere. Wussten Sie, dass es eine australische Fliegenart mit goldenem Hinterteil gibt, die den Namen Scaptia (Plinthina) beyonceae „zu Ehren der Sängerin Beyoncé Knowles“ trägt, weil sie die „Diva unter den Pferdebremsen“ sei, so Bryan Lessard, ihr Entdecker, oder dass es an der Naziherrschaft, möglicherweise am Führer persönlich scheiterte, die Spitzmaus und die Fledermaus, beide Raubtiere, von ihrem unkorrekten Namensteil Maus, ein Nagetier, zu befreien?
Das Buch ist für jene, die gern mal was ganz anderes als noch einen Krimi nach gleichem Strickmuster lesen wollen, die ideale Ferienlektüre. Es ist ein wunderbares Geschichten und Geschichtsbuch, wir erfahren nicht nur, welche Tiere wo und wann gefunden und benannt wurden und wie die Systematik der Namensgebung entstand, Autor Ohl bringt uns viele Biographien von Naturforscherm, Biologen, Tiersammlerm und Paläontologen (auch Fossile brauchen Namen) näher. Und ihre Kompetenzstreitigkeiten, beispielsweise den „Knochenstreit“ zwischen Edward Drinker Cope und Othniel Charles March, den wichtigsten Wirbeltier-Paläontologen Nordamerikas im 19. Jahrhundert, erst befreundet, dann in einem Wettbewerb um immer noch grössere Dinosaurier-Funde zu Gegnern geworden. Um March zu übertreffen, verfügte Cope, sein Skelett sei der Wissenschaft zu überantworten. Sein Ziel war es, als Typusexemplar, also „Urmeter“ des Homo sapiens in die Annalen einzugehen und damit Sieger im Knochenkrieg zu werden.
Carl von Linné veröffentichte die erste Systematik der Natur 1768. Porträt 1775 von Alexander Roslin
Auch der Mensch ist also ein Tier, dessen wissenschaftlicher Name Homo sapiens1758 nach den Regeln der Kunst vom Urvater der Taxonomen Carl von Linné erteilt wurde. Allerdings fehlt das Einzeltier in der Referenzsammlung Linnés. Der Beschreibung von Homo sapiens stellte Linné den Aphorismus Homo nosce te ipsum – Mensch, erkenne dich selbst voran. Also sei nicht auszuschliessen, dass Linné auf sich selber verweisen wollte, da er sich seiner Bedeutung für die Systematik bewusst war: „Linné war bekannt für sein ausgeprägtes Ego und seine Eitelkeit,“ schreibt Ohl. Aber weder Cope noch Linné sind Referenz für die Art Homo sapiens. Das zeigt ein Blick auf das Typus-Verfahren. Ein Taxonom untersucht eine grosse Zahl von Individuen und teilt sie anhand von Merkmalen in verschiedene Gruppen auf. Dabei geht es nicht um Buchhaltung, sondern um die biologischen Arten, welche als Produkte der Evolution im Lauf der Geschichte entstanden sind.
Ein kleiner Falter an meinem Fenster. Ob wohl jemand weiss, wie der heisst…
Weil Insekten mit Millionen Arten, fast die Hälfte noch nicht entdeckt und taxiert, die zoologische Welt anführen, nehmen sie auch im Buch ihren gebührenden Platz ein. Seit ich immer wieder darin lese, sehe ich Tiere, vor allem Insekten mit anderen Augen an, wenn sie mir begegnen, versuche ich die Schönheiten einer Schnake, die Flugbewegungen eines Mückenschwarms, die filigrane Musterung eines Falterflügels genauer zu studieren. Freilich bin ich nicht in der Lage, auch nur eins zu identifizieren, es sei denn, es handle sich um Apis mellifera, die Honigbiene. Linné selber hat den Namen abgekürzt von Apis pubescens, thorace subgriseo, abdomine fusco, pedibux posticis glabris utrinque margine ciliatis, sinngemäss behaarte Biene, mit gräulichem Rücken, bräunlichem Bauch, glatten Hinterbeinen mit Haaren an beiden Rändern, wie die Honigbiene noch bis ins 17. Jahrhundert hiess. Auch der elegante neue Name hat seine Tücken: mellifera heisst Honig tragend, aber das Insekt trägt Pollen und Nektar in den Bienenstock und produziert den Honig, also Apis mellifica, wie Linné sich später korrigierte. Bis heute wird der mellifera-mellifica Konflikt gepflegt, aber hier greift – so erfährt der Laie – eine andere, entscheidende Regel der Taxonomie: der erste Name gilt, auch wenn er sachlich nicht korrekt sein mag.
Da gibt es einiges zu sammeln in dem tiefen Kelch einer Nachtkerzenblüte
Die Taxonomen arbeiten mit Altsprachen, aber Ohl freut sich – und mit ihm alle Lesenden – an einer Liste der 147 afrikanischen Spitzmausarten in deutsch, angefangen mit der Kongo-Spitzmaus und aufgehört mit der Vulkan-Zwergspitzmaus. Sie ist ein winziger Auszug aus dem monumentalen Werk Mammals of Africa, welches Anke Hoffmann mitverfasst hat. Weil sie nur 29 deutsche Spitzmausnamen ausfindig machte, konnte sie sich für 118 Arten selber geeignete Namen ausdenken.
Die Fleissarbeit der Sammler und Jäger, welche der Wissenschaft zahllose neu entdeckte Tiere aus nahen und entfernten Welten zuführten, war jeweils dann erfolgreich, wenn die Skelette, Felle, Schädel oder auch Schmetterlinge, Spinnen, Fische und Vögel möglichst unversehrt ihr Ziel erreichten. So stellt sich die Frage, wie verpackt und verschickt man Insekten, damit sie am Zielort nicht ein Häufchen Staub sind, sondern für die Wissenschaft taugen.
Filigrane Beine und Flügel
Wussten Sie, dass Tütchen aus Zeitungspapier eine adäquate Lösung mit Zweitnutzung waren und mitunter noch sind: Auch die fragilsten Flugtiere mit den längsten Beinen kommen in ihrem Spitztütchen, gefaltet vom sorgsamen Forscher am Fundort in irgendwo sicher ans Ziel. Im Fall einer Bruchlandung finden sich alle Teile des Tiere am selben Ort – einfach zusammenkleben. Und die Zweitnutzung, fragen Sie. Da geht es um das Gedruckte. Der Zeitungsfetzen vermittelt dem Museumsmenschen nach dem Auspacken des Fundstücks oft erhellende Einzelheiten aus der Zeit und der Region des Funds.
Während die Systematik, mit der die Tiere in Kategorien eingeteilt werden, nach strengen Regeln verläuft, ist der Entdecker bei der Namensgebung innerhalb der Normen weitgehend frei. Namen müssen altsprachlich sein und aus einem Substantiv und zumindest einem Adjektiv bestehen. So erfahren wir Details über Liebhabereien (die Meeresschnecke Bufonaria borisbeckeri), Belesenheit (der Flugsaurier Arthurdactilus conandoylensis) oder Filminteressen (die Zikadennamen Baeturia laureli und Baeturia hardyi nach Laurel und Hardy) der Taxonomen.
Da vermehren sie sich, nachdem sie fast alle Blätter des Trüblistrauchs gefressen haben. Danach geht es bodenwärts bis nächstes Jahr und nächste Generation: Gartenlaubkäfer
„Exzentriker unter Wissenschaftlern zu finden, ist nicht schwierig,“ schreibt Michael Ohl, „aber unter Taxonomen … drängen sie sich förmlich auf.“ So bekamen auch das Loch Ness Monster und der Yeti einen wissenschaftlichen Namen, und Professor Harald Stümpke beschrieb in einem Buch die Gattung der Rhinogradentia oder deutsch Nasenschreitlinge, welches in Fachkreisen viel Beachtung fand. Der wahre Urheber, Zoologieprofessor Gerolf Steiner von der Uni Karlsruhe, hatte sich von Morgensterns Nasobem inspirieren lassen.
Michael Ohl: Die Kunst der Benennung. Matthes & Seitz Berlin 2015. 317 Seiten, gebunden, 22 Abbildungen. ISBN: 978-3-95757-089-5
Michael Ohl über seinen Forschungsschwerpunkt: «Der Schwerpunkt meiner Forschung liegt auf der Taxonomie, Phylogenie und Evolution der holometabolen Insekten, insbesondere der Hymenoptera and Neuropterida. Mein besonderes Interesse gilt der globalen Taxonomie and Phylogenie der hochdiversen Grabwespen innerhalb der aculeaten Hymenopteren. Ein weiterer Fokus liegt auf der Taxonomie and Phylogenie der Mantispidae, einer relativ kleinen, aber wenig untersuchten Gruppe der Netzflügler (Neuroptera).»
Teaserbild: Die Pferdebremse mit goldenem HInterteil. Foto Erick, creative commons