«Plötzlich war ich auf einer Seite mit einem Foto vom Grab meiner Grosseltern» – Über Internet-Plattformen wie BillionGraves und MyHeritage…
Von Oliver Bendel
Vor kurzem kam mir zu Ohren, mein Grossvater sei bei der SA gewesen. Mit dem Dritten Reich war ich schon deshalb vertraut, weil ich das Hans-und-Sophie-Scholl-Gymnasium in Ulm besucht und mehrmals mit Inge Scholl, der Schwester der beiden Widerstandskämpfer, gesprochen hatte. Meine Familiengeschichte, so hatte ich gedacht, war gänzlich unbefleckt. Ich begann im Internet zu stöbern und stiess auf ein Bild mit dem Grabstein meiner Grosseltern.
Der Duft der Weißen Rose
Mit Inge Scholl traf ich mich mehrmals, um im Stadtarchiv weniger bekannte Fotos ihrer Geschwister für eine Ausstellung an meiner Schule auszuwählen. Von ihr stammte das kleine, und doch grosse Buch, das mit seinem grauen Einband in meinem Regal stand: „Die Weiße Rose“. Der Duft dieser Blume berauschte unsere Generation, zumindest einige davon.
Sie ist vor langer Zeit gestorben. Ihr Leben hat alles umspannt, von den schrecklichen Jahren im Dritten Reich bis zu unseren für sie nicht so wichtigen und für mich so wichtigen Treffen, vom tragischen Tod ihres Mannes Otl Aicher bis hin zu ihren Jahren mit sich selbst. Ich erinnere mich nicht mehr an den Raum, in dem wir arbeiteten, von einer gewissen Dämmerung abgesehen. Aber die Fotos sind immer noch vor meinem inneren Auge, hell und leuchtend, was an der Leselampe liegen mag. Die hübsche Sophie. Der hübsche Hans. Im Licht der Lampe. Sophie und Hans, von den Nazis ausgelöscht.
Der Krieg war Geschichte
Als ich mich mit Inge Scholl traf, war mein Ahnherr längst unter der Erde. Ich hatte ihn und seine Frau regelmässig in Neu-Ulm getroffen. Ich war bei ihnen, wie man als Enkel bei den Grosseltern ist. Zwischen Hingezogenheit und Unverständnis. Ich ging einkaufen, Lebensmittel, Getränke und Putzzeug. Es musste immer eine ganz bestimmte Lindt-Schokolade sein, und ich weiss nicht mehr, ob sie nur für sie oder auch für ihn war. Er war wohlgenährt und wohlgemut. Wir sprachen nie über den Krieg. Der Krieg war Geschichte, ich ein Kind. Ein 5-Mark-Stück erhielt ich, wenn ich Glück hatte, und so kehrte ich nach Baden-Württemberg zurück, in den Westen von Ulm, erleichtert und beschwert.
Die Männer mit dem hochgeschlagenen Hosenbein wurden weniger und weniger. Sie humpelten aus der Geschichte hinaus, aus meiner Geschichte. Mein Opa war unversehrt. Dann war er tot. Ich habe sein Grab nur wenige Male aufgesucht, niemals allein, immer im Rahmen eines Anlasses. War er wirklich bei der SA gewesen? War er einer von denen, die das Unrecht, das Leid mit vorbereitet, verursacht, verantwortet haben? Wie stand er dazu, dass ich stolzer Schüler des Hans-und-Sophie-Scholl-Gymnasiums war? Was hätte er dazu gesagt, dass ich mit Inge Scholl verkehrte?
Virtuelle Friedhöfe
Ein Verwandter hätte mir nicht helfen können. In einem Archiv würde ich nichts finden. Ich nahm mein Notebook, rief eine Suchmaschine auf, tippte in den Suchschlitz eine Wortkette ein, Vor- und Nachname, danach noch den die Abhängigkeit ausdrückenden Namen der bayerischen Stadt. Plötzlich war ich auf einer Seite mit einem Foto vom Grab meiner Grosseltern. Eine aufrechte Granitplatte, ein eingraviertes Kreuz, beide Namen, jeweils Geburts- und Todesdatum. Eine Liste auf der Seite: „Cemetery: Friedhof Neu-Ulm“, „Marriage: Not Available“. Überhaupt war wenig verfügbar, nichts zu „Relationships“, nichts zur „Military Information“, kein „Memorial“, keine „Personal History“.
Grabbilder im Internet gegen das Vergessen (Bild: wikimedia.org)
Seit Jahren pilgern „Volunteers“ auf der ganzen Welt zu Friedhöfen, knipsen die Grabsteine und lassen die GPS-Koordinaten ermitteln. Die Bilder werden auf Plattformen hochgeladen, die von MyHeritage, BillionGraves und Co getragen werden. Über Google Maps kann man sich den Ruhestätten vom Himmel her nähern. Und über einfache Funktionen kann man Daten und Informationen (auch Fehl- und Falschinformationen) hinzufügen. Ich gab über ein Klappmenü mit dem Wort „Spouse“ an, was meine Grossmutter für meinen Grossvater war.
Gegen das Vergessen
Als Privatperson bin ich unangenehm davon berührt, dass Fremde meinen Vorfahren im Nachhinein so nahegekommen sind. Zugleich finde ich es erstaunlich, dass mir das Grab, an dem ich zuletzt vor 30 Jahren gestanden habe, wieder vor Augen ist. Als Wissenschaftler habe ich Verständnis für das Interesse von Genealogen. Ich habe Respekt vor ihrem Gegenstand. Sie, in der Mehrzahl unbezahlte Amateurforscher, leisten in diesem Bereich hervorragende Arbeit. Sie fördern zutage, stellen fest, sichern. Sie beschreiben Menschen, ihre Beziehungen und ihre Zugehörigkeiten. Wenn etwas gegen das Vergessen getan werden kann, dann bin ich mit dabei. Womöglich gibt es ja Details im Leben meines Grossvaters, die nicht nur ich kennen sollte.
Ob man davon etwas hat oder nicht, ob man es mag oder nicht, ob man mitmacht oder nicht: Die Bilder der Gräber unserer Ahnen werden zu unserem Leben gehören. Und wenn unser Leben vorbei ist, werden die Bilder unserer Gräber online sein.
Den vollständigen Artikel lesen Sie auf www.senline.net
[Der Autor lehrt und forscht als Professor an der Hochschule für Wirtschaft der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, mit den Schwerpunkten E-Learning, Wissensmanagement, Social Media, Wirtschaftsethik, Informationsethik und Maschinenethik.]
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