Auf die Frage „Gibt es für Sie Grenzen?“ würden vermutlich die allermeisten Menschen antworten: „Natürlich“.
Fragt man dann nach: „Heisst das, dass es für Sie keine Toleranz, kein Tolerieren gibt“, dann wird die Antwort lauten: „Das heisst es nicht. Akzeptieren, tolerieren? Klar. Aber nur bis zu einer bestimmten Grenze.“
Fragt man nochmals nach: „Und warum in Grenzen?“ bekommt man so oder so ähnlich gesagt: „Weil Grenzen wichtig sind. Es hat sie schon immer gegeben. Darum, weil Grenzen Orientierungssicherheit geben, jene Güter wie z. B. Recht, Ordnung und Wohlergehen, ohne die der Einzelne aber auch keine Gesellschaft überlebensfähig wären“.
Weitere ‚Ergebnisse‘ einer Umfrage in Kurzform: Grenzen trennen Drinnen und Draussen / Sie verlaufen zwischen Diesseits und Jenseits / Sie sagen einem, wer dazu gehört und wer nicht / Geben etwas Gestalt und Schutz / Sie zeigen einem: Hier hört etwas auf, hier fängt etwas an / Es kann ohne Kultur, ohne Respektierung von Grenzen und eine Kultur der Grenze nicht geben / Weil sich das Denken selbst eine Grenze erzeugen kann.
Schon mit dem Namen des Wortes „Grenze“ tun sich die meisten Menschen schwer. Es überwiegt von alters her der Wunsch nach einer offenen Gesellschaft und einer Welt, in der jeder sich frei bewegen, denken, glauben und meinen kann, um dort zu leben, wo und wie ihm gefällt, wo die eigene Würde geachtet wird.
„Es gibt nur einen Weg zum Glück, und das ist, aufzuhören mit der Sorge um Dinge, die jenseits der Grenzen unseres Einflussvermögens liegen“ (Epiktet um ca. 50 – 135).
„Ohne Grenzen gibt es kein Miteinander, ohne Differenz keine Erkenntnis: Wer als Mensch wissen will, wer er ist, muss wissen, von wem er sich unterscheidet», schreibt der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann in seinem neuen Buch <Lob der Grenze>. Darin spürt er den Grenzen und Unterscheidungen nach, ohne die kein Mensch als Einzelne(r) noch eine Gesellschaft überlebensfähig wären.
„Auch Menschen, zu deren Lebensmotto immer ein überzeugtes „Geht nicht? Gibt‘s nicht!“ gehörte, mussten mitunter durch einen Burnout erleben, dass Körper und Psyche eben doch ihre Grenzen haben“ (R. Kopp – Wichmann).
Das Wort Grenze bedeutet, dass es einen bestimmmten Punkt gibt, an dem es nicht mehr weitergeht.
Selbst für den Philosophen Karl Popper war in seinem Werk <Die offene Gesellschaft und ihre Feinde> der Begriff „Grenze“ nicht widersinnig. Schon darum, weil in einer offenen Gesellschaft zum Beispiel Toleranz ohne Grenzen keinen Sinn geben.
Grenzen hat auch die Freiheit. Sie hört dort auf, wo die Freiheit des anderen beginnt. Freiheit, so Karl Popper, kann ungemütlich werden, kann Angst machen, kann Menschen überfordern und die Sehnsucht nach der Rückkehr in eine geschlossene Gesellschaft nähren, die alle ihre Kraft dazu verwendet und verschwendet, sich nach aussen abzuriegeln.
Freiheit braucht Sicherheit
Eine Grenze ist dort zu ziehen, wo die Zulassung fremden Rechts zu Ergebnissen führt, die mit den wesentlichen Grundsätzen unseres Rechts [Grundgesetz] nicht vereinbar sind.
Für Popper endet die „Grenzenlosigkeit“ dort, wo die „offene Gesellschaft“ gefährdet ist, weil sie wie die Geschichte lehrt, von einer dicht machenden, geschlossenen Gesellschaft abgelöst werden soll.
Eine offene Gesellschaft setzt persönliche Freiheit voraus, aber auch auf die individuelle Verantwortung für die Folgen eigenen Handelns. Hier steht das Individuum im Zentrum, nicht das Kollektiv. Hier setzt man auf die Vernunft, auf Argumente, auf die verbindende Kraft des Wortes – was auch sonst. Nicht auf Doktrinen, sondern lässt kreative Veränderungen zu, dort versucht man sie – milde gesagt – zu verhüten.
Hier ist Freiheit ein Grenzbegriff, der dazu dient, die Freiheit als eine Freiheit zu bestimmen, die sich selbst Grenzen setzt. Weil: Grenzenlose Freiheit unmenschlich ist. Der französische Philosoph Albert Camus hat diese Ansicht geteilt. Grenzenlose Freiheit ist für ihn ein Horror, eine Freiheit, die keine Grenze kennt und in den Grundsatz sinkt: Alles ist erlaubt.
„Dieses ‚Alles ist erlaubt‘ ist der Leitspruch der reinen Willkür“. (A. Pieper).
„Eine Grenze als solche zu denken heisst auch, das Grenzenlose zu denken“ (F.W. Hegel).
Dass Grenzen auch positive Eigenschaften haben (dieser Gedanke, mit dem sich kürzlich der Philosoph Sloterdijk unbeliebt gemacht hat und seither als „Rechter» aus dem Diskurs derer, die meinen, allein auf ihrer eigenen Intelligenz gründen zu können, ausgegrenzt wird), dieser Gedanke musste aus dem Publikum in die Diskussion gebracht werden.
Grenzen zu ziehen, sei es in der Wirklichkeit, sei es im Denken, wird in einer Zeit schwer, die sich „prinzipiell davor scheut, überhaupt noch Unterscheidungen im Denken zuzulassen“. Der Zeitgeist – nicht mehr ums Mit- und Nachdenken – will Grenzen überschreiten, beseitigen oder aufheben, oder zum Verschwinden bringen.
Er täuscht sich damit allerdings über die Funktion und Möglichkeiten von Grenzen.
Sir Karl Popper (geb. 1902 gest. 1994) in: <Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, S. 268): «Wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur einen Weg, den Weg in die offenen Gesellschaft.
Wir müssen ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere weiterschreiten und die Vernunft, die uns gegeben ist, verwenden, um so gut wie wir es eben können, für beides zu planen: nicht nur für Sicherheit, sondern zugleich auch für Freiheit». Wobei der Kampf für die Freiheit, meint Karl Popper, ein ewiger ist. Er endet nie.