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Gesetz versus Gerechtigkeit

„Terror – Eine Gerichtsverhandlung“. Im Berner Theater an der Effingerstrasse wird das Publikum zu Geschworenen.

Ferdinand von Schirach, deutscher Strafverteidiger und Bestseller-Autor, schrieb 2015 dieses Stück, das eines der Hauptprobleme unserer Zeit aufgreift, den Terrorismus. Auf die Effi-Bühne bringt es Regisseur Stefan Meier, im Spielraum von Peter Aeschbacher und in nüchternen Gerichtsroben und Luftwaffen-Uniformen der Bundeswehr (Sarah Bachmann, Sybille Welti). Unmissverständlich wird von Anfang an das Publikum als Geschworene einbezogen; am Schluss fällt es auch das Urteil, mittels eines Tastendrucks: Ist Lars Koch schuldig des mehrfachen Mordes in 164 Fällen, oder ist er unschuldig?

Das Problem ist an sich ein uraltes. Schon in der Antike wurde es formuliert, und auch Immanuel Kant befasste sich in seinen Schriften damit. Friedrich Dürrenmatt philosophiert im Allgemeinen über „Recht und Gerechtigkeit“; Friedrich Schiller handelt das Thema in der bekannten „Parricida-Szene“ in seinem Tell-Drama ab (kein Wunder, dass man diese Szene, mindestens in Inszenierungen des letzten Jahrhunderts, oft weggelassen hat). Es lautet, aufs Wesentliche vereinfacht: Ist es gerecht, das Leben einzelner oder weniger Unschuldiger zu opfern, um das Leben vieler Unschuldiger zu retten?

Mit ausdrucksstarker Klarheit konkretisiert die imaginäre Gerichtsverhandlung dieses Bühnenstücks das Geschehen. Ein Passagierflugzeug wird von einem Terroristen entführt. Es gelingt den beiden zur Intervention eingesetzten Kampfjets nicht, es abzudrängen und zur Landung zu zwingen – es steuert auf ein vollbesetztes Fussballstadion zu. 70’000 Menschen im Stadion sind ernsthaft in Lebensgefahr. Die 164 Insassen des Lufthansa-Flugzeugs werden ihr Leben ohnehin verlieren, wenn das Flugzeug abstürzt, sei es auf das Stadion oder irgendwo aufs freie Feld.

Kommt einerseits hinzu, dass ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts dem Gesetzesartikel, der für einen solchen Fall den Abschuss des Passagierjets rechtfertigte, die Verfassungskonformität aberkannt hat. Andererseits hat die höchste für diesen Fall zuständige Verteidigungsministerin den Abschussbefehl ausdrücklich nicht erteilt. Der zuvorderst am Geschehen involvierte Führer der Kampfpatrouille, Major Lars Koch, hat ohne Kompetenz nach Gewissen entschieden, den Befehl missachtet, die Sidewinder-Rakete ausgelöst und das Passagierflugzeug abgeschossen.

Sinikka Schubert, Jeroen Engelsmann

Jetzt steht Lars Koch vor Gericht. Jeroen Engelsmann mimt den Luftwaffenmajor als perfekte Mischung von schweigendem Angeklagten und intelligent argumentierendem Offizier. Mit seiner Sprache wirkt er ebenso knapp, klar und überzeugend wie mit seiner Mimik. Er gesteht die Tat ohne Beschönigungsversuche. Peinlich scheint es ihm zu werden, wenn er von den reinen Fakten zu Meinungen oder gar Gefühlen übergehen muss. Das allerdings verlangt die Staatsanwältin von ihm mit ihren oft recht kalten, zynischen Fragen. Sinikka Schubert vermag in dieser Rolle wiederum etwas auszuspielen, was offenbar eine ihrer Stärken ist: Eisig undurchsichtig lächelnde Freundlichkeit, gepaart mit frostig kalter, zielgerichteter Taktik, um ihr „Opfer“ in auswegloser Enge festzuhalten.

Der Verteidiger, verkörpert von Johannes-Paul Kindler, spielt eine Art „Theater im Theater“. Anfangs muss man auf ihn warten, seine Robe anzuziehen „vergisst“ er, zuzuhören scheint er nicht sehr aufmerksam; er mimt seine Rolle, als sei er ein gelangweilter Pflichtverteidiger – und dann spricht er. Nicht immer ganz höflich, doch stets glasklar. Den Dingen auf den Grund gehend, demaskiert er sie, rückt Absurditäten ins richtige Licht.

Zwischen diesen juristischen Gegenspielern strahlt Benjamin Morik als Vorsitzender genau die Objektivität und Gelassenheit aus, die seiner Funktion entspricht. Er lässt alle zum Wort kommen, greift aber unmissverständlich ein, wo irgendwelche Grenzen überschritten werden. Er ist es auch, der mit seinem Zitat eine überzeugende Voraussetzung zum Verständnis der Vorgänge auf der Bühne schafft: „Der germanische Thing hatte zum Ziel, eine entstandene Unordnung durch Gespräch wieder in Ordnung zu überführen.“ (Nicht wörtlich zitiert; Thing bedeutet Hochgericht – und ob der Satz der Feder des Autors oder der Sachliteratur entstammt, bleibt ungewiss.)

Plädoyer des Verteidigers: von links Jeroen Engelsmann, Johannes-Paul Kindler, Benjamin Morik (Vorsitzender) und Sinnikka Schubert.

Ungewiss übrigens ist auch eine der Hauptvoraussetzungen, die für die Klärung der Schuldfrage beigezogen wird: Ob es möglich ist, ein mit 70’000 Zuschauern besetztes Fussballstadion in einer Viertelstunde zu räumen, wie im Notfallplan des Stadions, dem Gericht vorliegend angenommen wird, sei dahingestellt.

Von links: Johannes-Paul Kindler, Jeroen Engelsmann, Frank Hangen, Benjamin Morik,
Sinikka Schubert

Kolorit und menschliche Atmosphäre bringt die Nebenklägerin ins Spiel. Christiane Wagner verkörpert in dieser Rolle mit Sachlichkeit so gut wie auch mit Gefühl die schmerzliche Sicht der Seite der Opfer. Oberst Christian Lauterbach, als höchster Verantwortlicher der Einsatzzentrale Zeuge in der Verhandlung, stellt die hierarchischen und fachtechnischen Verhältnisse klar. Frank Hangen lässt in seiner Rolle nicht im Unklaren darüber, dass er sich vor diesem zivilen Gericht und vor Zivilisten als Geschworene nicht wohl in seiner Haut fühlt. Eh Leute, die von seiner Aufgabe keine Ahnung haben – und überhaupt…! Belustigend verkrampft verzieht er noch und noch sein martialisches Obersten-Gesicht. Dabei belegen seine Aussagen mit einwandfreier Sachlichkeit die dem ganzen Vorfall zugrunde liegenden Fakten und Umstände.

Und wir, das Publikum, als Geschworene? Angeregt zum Teil waren einzelne Pausengespräche am Premierenabend dieser Schweizer Erstaufführung, welche die 21. Spielzeit des Theaters an der Effingerstrasse eröffnet. Trotz der Unvereinbarkeit von legalistischem Prinzip – Recht versus Unrecht – einerseits, und Menschlichkeit andererseits, ist das Verdikt der Geschworenen eindeutig. Übrigens schon seit der Uraufführung 2015 an allen Theatern, die das Stück auf ihre Bühne brachten.

Bilder: © Severin Nowacki
Weitere Aufführungen bis 16. September
DAS Theater an der Effingerstrasse-Terror

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