Im Film «I, Daniel Blake» porträtiert der heute 80-jährige Ken Loach mit seinem Drehbuchautor Paul Laverty zwei Menschen in der Maschinerie des Sozialwesens: engagiert und fesselnd.
Der 59-jährige Daniel Blake (beeindruckend gespielt vom erfolgreichen Londoner Comedian Dave Johns) hat sein Leben lang als Schreiner in Newcastle gearbeitet. Nach einem Herzinfarkt ist er zum ersten Mal auf staatliche Hilfe angewiesen. Während er sich bemüht, die Formalitäten für eine Unterstützung zu erfüllen, trifft er Katie (berührend dargestellt von der ebenfalls in London geborenen Theater- und Filmdarstellerin Hayley Squires) und ihre beiden Kinder. Um nicht in einer Obdachlosenunterkunft zu landen, bleibt der alleinerziehenden Mutter nichts anderes, als in eine Wohnung weit weg von ihrem gewohnten Umfeld zu ziehen. Gemeinsam kämpfen Daniel und Katie nun gegen die Fallstricke der Bürokratie im Sozialwesen.
Daniel und Katie, stellvertretend für viele
Daniel ist ein Mann, der lange als Schreiner gearbeitet hat, auf grossen und kleinen Baustellen und als Tischler in Werkstätten. In der Freizeit arbeitet er noch immer gerne mit Holz. Dann stirbt seine Frau. Und er erleidet einen Herzinfarkt. Jetzt befindet er sich in der Rehabilitation, darf noch nicht arbeiten, hat also Anspruch auf Arbeitslosen- oder Sozialhilfe. Daniel, dieser robuste, humorvolle Mann, der es gewohnt ist, seine Privatsphäre zu schützen, versucht zu überleben. Katie ist Mutter von zwei kleinen Kindern. Sie hat in einem Obdachlosenasyl in London gelebt, bis die lokalen Autoritäten ihr eine Wohnung im Norden verschafft haben. Dort erhält sie Wohngeld, so brauchen die örtlichen Behörden nicht zu bezahlen. Die Wohnung ist gut, wenn auch renovationsbedürftig. Doch auch sie kippt aus dem Wohlfahrtssystem heraus, gerät in Schwierigkeiten: ohne Familie, Unterstützung und Geld. Katie ist eine Realistin, sie beginnt zu verstehen, dass es in ihrer Verantwortung liegt, irgendwie zu überleben.
Zwei Opfer des Systems
Aus einem Interview mit dem Regisseur
Was ist die Wurzel der Geschichte?
Am Anfang stand die universelle Geschichte von Menschen, die ums Überleben kämpfen. Aber dann mussten die Charaktere und die Situation eine lebensechte Grundlage bekommen. Wenn wir genau hinsehen, dann erkennen wir, dass die staatliche Fürsorge für verzweifelte Menschen in Notlage als politisches Instrument genutzt wird. Die grausame Waffe ist die Bürokratie, die absichtliche Ineffizienz der Bürokratie: «So wird es dir ergehen, wenn du nicht arbeitest. Wenn du nicht arbeitest, wirst du leiden!» Die Wut über solche Zustände motivierte uns zu diesem Film.
Wo haben Sie mit der Recherche begonnen?
Ich wollte schon immer etwas in meiner Heimatstadt mitten in den Midlands machen, also haben mein langjähriger Drehbuchautor Paul Laverty und ich dort mit Leuten gesprochen. Eine Freundin von mir, die in einer Wohlfahrtseinrichtung arbeitet, hat Paul und mich einigen Leuten vorgestellt, die aus unterschiedlichen Gründen keine Arbeit finden. Einige von ihnen arbeiten ohne gesichertes Einkommen für Zeitarbeitsfirmen und haben keine eigene Wohnung. Einer von ihnen hat uns sein Zimmer in einem Wohnheim gezeigt. Ausser einer Matratze und einem Kühlschrank gab es da praktisch nichts, keine Milch, keine Kekse, nichts. Wir fragten ihn, wann er das letzte Mal gegessen habe, er antwortete, in der vergangenen Woche hätte er vier Tage lang kein Essen gehabt. Er hungerte und war verzweifelt. Auf Begegnungen mit solchen Unsicherheiten und Erniedrigungen beziehen wir uns im Film.
Sie behaupten, dass die Undurchschaubarkeit der bürokratischen Strukturen Absicht ist.
Genau. Bei den örtlichen Arbeitsämtern geht es heute nicht mehr darum, den Menschen zu helfen, sondern ihnen Steine in den Weg zu legen. Es gibt einen sogenannten Arbeitsvermittler, dem es im Gegensatz zu früher nicht mehr erlaubt ist, den Menschen Arbeitsstellen anzubieten beziehungsweise bei der Arbeitssuche zu helfen. Von oben wird eine gewisse Anzahl von Sanktionen gegen Arbeitssuchende erwartet. Und wenn die Sachbearbeiter nicht genügend Menschen sanktionieren, geraten sie selbst ins Fadenkreuz. Das hat schon Orwellsche Ausmasse, nicht wahr?
Hoffen Sie mit Ihren Filmen etwas zu verändern?
Tja, es gibt doch den Spruch «Agitiere, belehre, organisiere!». Mit einem Film kann man zwar agitieren, belehren eher weniger, organisieren überhaupt nicht, aber Fragen stellen. Genau das ist das Ziel des Films. Sich mit Dingen zufriedenzugeben, die nicht zu tolerieren sind, ist keine Option. Figuren, die in Situationen gefangen sind, in denen sie Konflikte fertigmachen, stehen im Mittelpunkt des Dramas. Ich glaube, Wut kann produktiv sein, wenn man sie zu nutzen weiss. Eine Wut, die das Publikum mit Ungelöstem, Herausforderndem zurücklässt, gibt Anreiz, etwas zu unternehmen.
Ungleiche Menschen in ähnlichen Situationen
Ken Loach:
ein spannender Erzähler …
Kenneth Loach wurde 1936 in Nuneaton geboren, studierte Jura, war Wanderschauspieler und begann 1963 seine Regiekarriere bei der BBC, wo er Fernsehfilme drehte, die durch ihren erbarmungslosen Realismus auffielen. Sein Doku-Drama «Cathy Come Home» provozierte 1966 eine vehemente Diskussion und verhalf schliesslich zu einer Änderung des Obdachlosen-Gesetzes. Sein Kinodebüt «Poor Cow» war noch in einem ähnlichen, unbarmherzigen, semidokumentarischen Stil gedreht, den er bei seinem 1969 inszenierten «Kes» dann etwas lockerte. In den 70er-Jahren arbeitete er vor allem fürs Fernsehen, bevor er in den 80ern zum Kino zurückfand: mit gegen drei Dutzend Filmen, mit über zwei Dutzend Preisen dekoriert. 2014 entstand das historische Drama «Jimmy’s Hall», bereits ein Alterswerk. In seiner langen Karriere ist Loach stets sich und seinen Idealen treu geblieben. Seine Filme erzählen mal warmherzige, mal bittere Geschichten, die vom Leben geschrieben sind. Politisch, persönlich, parteiisch sind sie alle. Immer war er ein Chronist und Ankläger sozialer und politischer Missstände. So auch mit «I, Daniel Blake», mit dem er 2016 zum zweiten Mal die Goldene Palme von Cannes und in Locarno den Publikumspreis gewonnen hat.
… und engagierter Anwalt sozial Schwacher
Bis heute hat er nichts von seiner Fantasie und Präzision, seinem Engagement und seiner Lust am Filmemachen eingebüsst. Auch mit 80 Jahren wird er nicht müde, sich in kurzweiligen Spielfilmen für die Rechte der Underdogs zu engagieren. Lakonisch und mit einer Brise Sarkasmus nimmt er diesmal den Sozialstaat ins Visier. Sein langjähriger Drehbuchautor Paul Laverty wurde für «I, Daniel Blake» durch eine Hetze gegen sozial Schwache als Schmarotzer in der Boulevardpresse für den Film angeregt. Aus der aufgestauten Wut heraus erzählen Laverty und Loach humorvoll, ehrlich und ohne falsches Pathos vom Kampf eines ungleichen englischen Paares um seine Würde. Daniels Vermächtnis: «Ich bin weder Klient, noch Kunde, noch Empfänger von Dienstleistungen. … Ich bin keine Versicherungsnummer und kein Blinken auf dem Monitor. … Ich krieche vor niemandem. Ich sehe meinem Nachbarn in die Augen und helfe, wenn ich kann. … Mein Name ist Daniel Blake. Ich bin ein Mensch. Kein Hund.»
Titelbild: Daniel und Katie mit ihren Kindern
Regie: Ken Loach, Produktion: 2016, Länge: 97 min, Verleih: Filmcoopi