Oder wenn junge Menschen demonstrieren…
Tausende junge Menschen demonstrierten in den Strassen Moskaus, im Newski-Prospekt zu Sankt Petersburg und in vielen anderen Städten Russlands. 1000 von ihnen wurden dabei allein in Moskau von einer überwältigenden starken und gewalttätigen Polizei verhaftet. Ihr Protest richtete sich und richtet sich auch weiterhin gegen die landesweite Korruption. Und ein Mann steht im Zentrum: Dimitri Anatoljewitsch Medwedew, der russische Ministerpräsident und ehemalige Präsident Russlands. Er soll sich über Scheinfirmen prächtige Immobilien unter den Nagel gerissen haben.
In einem Video hat der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ihn als die Symbolfigur der landesweiten Korruption öffentlich gemacht. Das weltweit beachtete Video verfehlte seine Wirkung nicht. Von unbekannten jungen Menschen ist in der Folge zu den Spaziergängen in den Strassen Russlands aufgerufen worden. Alexej Nawalny, als der vermutete Drahtzieher, ist dabei unter Protest der jungen Menschen verhaftet und von einem Gericht im Eilverfahren zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt worden.
Weit friedlicher ging es in der vergangenen Woche in Luzern, Zürich, Basel, Aarau, Bern und Genf zu. Tausende Schülerinnen und Schüler zogen lautstark und singend durch die Strassen ihrer Städte und demonstrierten gegen die Budget-Kürzungen im Bildungswesen in ihren Kantonen. Ausgangspunkt der Proteste ist die Sparpolitik im Kanton Luzern. In der Leuchtenstadt gab es schon mehrere Demonstrationen gegen die seltsam anmutenden Sparmassnahmen der Regierung. Im letzten Herbst wurden die Schülerinnen und Schüler länger in die Ferien geschickt, um Geld zu sparen. Was ist den gnädigen Herren zu Luzern nur eingefallen: Tiefere Steuern um jeden Preis.
Während es in Moskau, Sankt Petersburg und weiteren Städten in Russland um kriminelle Machenschaften der herrschende Klasse geht, letztlich um fundamentale Menschenrechte, um die Meinungsfreiheit, um das Demonstrationsrecht, um die Freiheit, geht es in den schweizerischen Regierungen schlicht nur um eines: ums Sparen. Welch ein Luxusproblem in einem reichen Land im Gegensatz zu Russland.
Indirekt geht es bei uns immer zuerst und tatsächlich um das Senken der Steuerlast. Sonntagspredigten, in denen immer wieder der Rohstoff „Bildung“ zelebriert und beschworen wird, werden damit geradezu konterkariert. Es trifft sich gut, dass exakt zu diesem Zeitpunkt, wo nur noch von der Senkung der Steuerlast, von Steuererleichterungen, von Steuerflüchtlingen, von Steueroasen, von Unternehmenssteuern, mit denen die Wirtschaft entlastet und der Mittelstand belastet werden soll, ein Buch erscheint, das begreifbar macht, dass es auch anders geht.
Die deutsche Linguistin Elisabeth Wehling, Professorin an der University California in Berkeley, setzt sich in ihrem Buch* „Politisches Framing“ mit der Frage auseinander, warum immer nur von Steuerbelastung die Rede sei. Warum wir nicht von einem Steuerbeitrag reden würden. Von einem Beitrag an die Gesellschaft. Mit der Methapher „Steuerlast“ werde hervorgehoben, dass die Steuern nur eine arge Belastung, gar eine Strafe seien. Zugleich kehre die Methapher „Steuerlast“ unter den Teppich, dass die Steuern die Infrastruktur, die Bildung, die Sicherheit, das Funktionieren des Staates garantieren würden. Sie folgert: „Das ist ein durch Steuern geschaffener Zustand, der einem das Fortkommen im Leben – ob privat oder beruflich – überhaupt erst ermöglicht, und insofern nicht als Last, sondern als Schutz der eigenen Freiheit gesehen werden kann.“
Die Freiheit ist so auch dank der Steuern ein Gemeinschaftswerk, das von Reich und Arm getragen wird, solidarisch, freundeidgenössisch. Die jungen Menschen, die in den Schweizer Städten auf die Strasse gingen und weiter gehen werden, erinnern uns daran. Und das ist gut so.
*Elisabeth Wehling: ,,Politisches Framing“: Wie eine Nation sich ihr Denken einredet und daraus Politik macht. Edition Medienpraxis, 14 Köln: Halem, 2016, ISBN 978-3-86962-208-8