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Lebensläufe umkrempeln

Zwei Grosse des französischen Kinos, Catherine Deneuve und Catherine Frot, erproben in «Sage femme» von Martin Provost neue Lebensentwürfe: faszinierend und motivierend.

Von einem Tag auf den anderen steht Claires (Catherine Frot) Leben auf dem Kopf. Die Klinik, in der sie seit Jahren mit Leib und Seele als Hebamme arbeitet, schliesst. Claires einziger Sohn eröffnet ihr, dass er Vater wird und sein Medizinstudium abbricht. Dann verliebt sie sich auch noch in Paul (Olivier Gourmet), den humorvollen Nachbarn aus der Kleingartenkolonie. Und wäre das alles nicht genug, platzt Béatrice (Catherine Deneuve) in ihr Leben. Sie war die Geliebte ihres verstorbenen Vaters: extravagant, egoistisch und lebenslustig, genau das Gegenteil der gewissenhaften und zurückhaltenden Claire. Doch Béatrice wäre nicht Béatrice, wenn nicht noch weitere Überraschungen anständen, die Claires Leben verändern werden.

Paul und Claire

Fulminant und bedeutungsvoll – zwei Frauen kommen sich nah und näher

Die eine, Claire, deren zwiespältigen Part Catherine Front intensiv und verhalten spielt, ist pflichtbewusst, sparsam, ablehnend gegenüber neuen Ideen, zurückhaltend, ordentlich, engagiert im Beruf, gegenüber der Umwelt und in der Liebe. Im ursprünglichen und im übertragenen Sinn eine «sage femme», eine Hebamme und eine weise, vernünftige, sittsame Frau, gegenwärtig in einer Midlife-Krise. Ihre Aufgabe als Hebamme erfüllt sie mit Engagement und Leidenschaft, glaubwürdig und überzeugend, sie lässt sich nicht vereinnahmen von den neuen Tendenzen der Gesundheitsindustrie. Dass sie aus ihrer Rolle auszubrechen vermag, dazu verhilft ihr der Fernfahrer und Weinliebhaber Paul, der zufällig in ihr Leben tritt, von Olivier Gourmet mit rustikaler Ausstrahlung gespielt.

Doch ihr Leben richtig auf den Kopf stellt erst Béatrice: ihr pures Gegenteil, wild, exzessiv, lebt über die Verhältnisse, intensiv und extensiv, egoistisch und fordernd, kontaktfreudig, doch fordernd, aber gleichzeitig grosszügig, sprengt Regeln und liebt die Freiheit. Sie war die Geliebte von Claires Vater, den sie verliess, als dieser, der ehemalige Olympia-Schwimmer, ihr nach seiner Karriere nichts mehr zu bieten hatte. Ihn sucht sie jetzt, nach 30 Jahren, und meldet sich dafür bei Claire, die ihr ins Gesicht sagt, dass sie an dessen Selbstmord schuld sei. Sie weint, stürzt sich aber erneut ins Leben, nachdem sie vom Arzt eine niederschmetternde Diagnose erhalten hat. Catherine Deneuve spielt die wunderbar neurotische Frau im Kunstpelz, die ihr Geld mit Pokern verdient und ihr Morphium am besten mit einem Whisky runterspült.

Der Drehbuchautor und Regisseur Martin Provost, der 1959 in Brest geboren wurde, führt die beiden Frauen zusammen, lässt sie aufeinanderprallen und in einen Sturm der Gefühle verwickeln: direkt und provokativ, differenziert und mit Empathie. In der Schweiz sind von Provost, der auch als Schauspieler und Schriftsteller bekannt ist, seine beiden letzten Filme bekannt, bei denen er sich als grosser Frauen-Porträtist einen Namen gemacht hat: von Violette Leduc und Simone de Beauvoir mit «Violette» (2011) und von der verkannten Malerin mit «Séraphine» (2008).

«Sage femme» ist ein Film, der uns an der turbulenten Auseinandersetzung von zwei Frauen Anteil nehmen lässt: mit der einen oder andern Seite sympathisieren, uns mit dem einen oder anderen Lebensentwurf identifizieren. In seiner minutiösen Schilderung offenbart er Extremsituationen und kann bewusst machen, welche Seiten wir selbst akzeptieren oder verwerfen. Ohne zu belehren, kann der Film helfen, unseren eigenen Lebensentwurf bewusst zu machen – und vielleicht zu ändern.

Catherine beim Anprobieren der neuen Identität

Aus einem Interview mit dem Drehbuchautor und Regisseur Martin Provost

Wie kamen Sie darauf, die Geschichte einer Hebamme zu erzählen?

Ich wurde bei der Geburt von einer Hebamme (sage femme) gerettet. Sie gab mir ihr Blut und schenkte mir dadurch das Leben. Dies tat sie mit Diskretion und Bescheidenheit. Als mir meine Mutter vor zwei Jahren davon berichtete, begann ich sofort nach ihr zu suchen, obwohl ich nicht mal ihren Namen kannte. Die Aufzeichnungen des Krankenhauses, in dem ich zur Welt kam, wurden vernichtet, somit gab es keinerlei Spuren. Meine Mutter erinnerte sich, dass die Geburtshelferin schon älter war, das heisst, sie ist inzwischen vermutlich verstorben. Ich habe mich daher entschlossen, ihr auf meine Weise Tribut zu zollen, indem ich diesen Film ihr und all den namenlosen Frauen widme, die im Schatten bleiben und ihr Leben in den Dienst von anderen stellen, ohne dafür jemals Dank zu empfangen.

Ein ausserordentliches Ereignis begab sich, als ich vor ein paar Monaten für meine Heirat ein Geburtszertifikat, und nicht die übliche Kopie, benötigte. Ich hatte gerade den Film fertig geschnitten und musste zu meiner Verwunderung feststellen, dass nicht mein Vater, sondern die Hebamme meine Geburt im Rathaus angemeldet hatte. Nicht nur hatte sie mich gerettet und die ganze Nacht neben mir gewacht, sie hatte darüber hinaus auch meine Geburt offiziell verkündet, als wollte sie damit unterstreichen, dass ich gesund und lebendig war. Ich halte dies für eine wundervolle Geste und wiederhole immer wieder ihren Namen, Yvonne André. Ihr verdanke ich alles.

«Sage femme» ist jedoch kein autobiografischer Film. Ich wollte nicht meine Geschichte erzählen, das war nur ein Vorwand, mich mit dem Thema zu beschäftigen. Zuerst um besser zu verstehen, was mit mir in der Geburtsnacht geschah, und später um ein genaueres Bild vom Beruf der Hebamme zu bekommen, traf ich mich mit einer ganzen Reihe von Geburtshelferinnen. Nach und nach schälte sich die Geschichte von Claire heraus. Ich wollte eine Hebamme porträtieren, die sich der unmittelbaren Anforderungen ihrer Zeit bewusst ist und sich an einem Wendepunkt in ihrem Leben befindet.

Béatrice ist das genaue Gegenteil von Claire; man kommt nicht umhin, an La Fontaines Fabel «La cigale et la fourmi» zu denken. War diese Anspielung beabsichtigt?

Ja. Ich habe diese Referenz als gegeben vorausgesetzt. Für mich ist der Film eine Fabel, jedoch wesentlich sanfter als Fontaines, die uns moralisch zur Identifikation verpflichtet, sowohl mit der Grille als auch mit der Ameise. Claire und Béatrice sind sehr verschieden, aber nach und nach entwickelt sich dieser Kontrast zu einer komplementären Ergänzung, in ein Geben und Nehmen, in Weisheit. Konflikt macht mir Angst, aber man kann ihn nicht immer vermeiden, er ermöglicht uns, Unterschiede schätzen zu lernen. Das ist es, was diesen beiden Frauen widerfährt. Claire lebt zu sehr im Schatten und Béatrice kehrt zurück, um ihr etwas Licht zu bringen. Béatrice, die immer wie ein Freigeist gelebt hat, erhält nun die Möglichkeit, sich selbst besser zu verstehen, innezuhalten und schätzen zu lernen, dass wir ohne den anderen nichts sind.

Zwei Frauen mit zwei Lebensentwürfen

In diesem Sinne stellt der Film die Frage: Was ist Freiheit?

Genau. Freiheit ist für mich ein Konzept, das ich häufig in Frage stelle. Es ist nicht die Abwesenheit von Grenzen oder Regeln, die Freiheit ausmachen; das ist es, woran Béatrice glaubt. Die Krankheit, die sie heimsucht, wird ihren Lebensstil und ihre Art zu denken verändern. Was sie als Freiheit bezeichnet, war immer eine Form der Flucht, doch plötzlich kann sie nicht mehr flüchten, sie ist verletzlich und braucht Claire. All das, was Claire verkörpert, hat Béatrice immer abgelehnt, vor allem dieses extreme Mitgefühl für machtlose und verletzbare Menschen. Es gibt nichts Verletzlicheres als ein Neugeborenes oder eine ältere Person, die sich anschickt zu sterben. Béatrice, eine erwachsene Frau, aber innerlich noch immer Kind, wundervoll und lustig, jedoch grausam in ihrer Gleichgültigkeit, begreift letztlich, dass sie nur sich selbst gefangen hält. Es ist bereits zu spät, doch sie hat eine Möglichkeit weiterzuleben, indem sie Claire zu guten Erinnerungen verhilft. Die Toten leben in uns weiter, sie führen ihr Dasein im Gedächtnis derjenigen fort, die sie geliebt haben und die sie liebten. Für Béatrice ist dies die letzte mögliche Freiheit. Eins der schlimmsten Erlebnisse in der Welt ist, allein zu sterben, ohne dass jemand deine Hand hält.

«Sage femme» erzählt auch die Geschichte einer Verwandlung

Beide Frauen füllen die Leere ineinander. Claire entdeckt ihre zweite Mutter wieder und Béatrice die Tochter, die sie nie hatte. Diese Beziehung steht im Zentrum der Geschichte. Béatrice schreckt nicht davor zurück, Claire den Ärzten gegenüber als ihre Tochter auszugeben, eine Rolle, die Claire, in die Ecke getrieben, akzeptiert. Und als Béatrice nirgendwo mehr hinkann, da lässt Claire sie in ihre kleine Wohnung und in ihr Leben. Somit wird das Appartement zur Arena, in der all das, was bisher nicht zum Ausdruck kommen konnte, ausagiert wird und eine Chance entsteht, verlorene Zeit wettzumachen und Frieden zu erreichen. Gemeinsam bringen sie den Mann zurück in ihr Leben, den sie beide, jede auf ihre Art, am meisten verehrt haben. Für Claire ist es der Vater, der viel zu früh aus ihrem Leben verschwunden ist, und für Béatrice die einzige wahre Liebe ihres Lebens. Um die Vergangenheit hinter sich zu lassen, muss man die Zukunft akzeptieren: Der Beginn eines neuen Lebens für Claire und ein tröstlicheres Ende für Béatrice.

Titelbild: Béatrice und Claire, von Catherine Deneuve und Catherine Frot grossartig gespielt

Regie: Martin Provost, Produktion: 2016, Länge: 117 min, Verleih: ascot-elite

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