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Kleine Lesereisen

Es ist reizvoll, mit einem Buch unterwegs zu sein. Es lenkt davon ab, sehen zu müssen, was man lieber nicht sieht.

Ich habe mir angewöhnt, nie ohne ein Buch oder ein Büchlein von zu Hause wegzugehen. Im Zug oder auf dem Schiff lese ich daraus. Ich nenne solche Ausflüge „kleine Lesereisen“. Ein Blick auf den See, einen ins satte Grün oder auf eine schroffe Felswand schafft eine angenehme Stimmung für die Lektüre. Die Gespräche im Zug lenken mich selten von der Lektüre ab. Ich bin aber froh, wenn ein Mitreisender nicht gerade sein Büro aufmacht und eine lange Besprechung mit seinem Mitarbeiter am anderen Ende des Drahtes abhält. Einer solchen weiche ich aus und wechsle den Sitzplatz. Ich bin ein Büchermensch.

In der grossartigen Biographie über Francesco Petrarca von Karlheinz Stierle begegne ich einem Intellektuellen des 14. Jahrhunderts, der leidenschaftlich Bücher sammelte und Bücher las. Die Bücher waren damals nicht leicht erschwinglich, mussten sie doch von Kopisten mit der Feder abgeschrieben werden. Petrarca bevorzugte auf seinen Reisen durch das damalige Europa kleine handliche Bücher. Er fand für seine Lektüre die ausserordentliche Formulierung: „Diesen Augen zu geben und meinen Augen diese.“ Darin spiegelt sich die Intensität seiner Lektüre. Lesen also enthält in sich eine Gegenläufigkeit. Ihnen Augen geben, bedeutet, mit der eigenen Vorstellungskraft lesen, in die Worte Bilder einzusenken, die im Leser leben und die er durch seine Bildung erworben hat. „Meine Augen diese“, heisst wohl, der Autor des Buches schärft dem Leser seine innere oder äussere Welt. Er macht sie für ihn wie neu und überraschend.

So entstehen oft auch meine Kolumnen. Ein Satz, wie der zitierte, regt mich an, ihn weiter zu denken. Ihn anders auszulegen, als es der Verfasser selber tun würde. Ich gebe dem Satz einen Sinn, den ich zu finden glaube, riskiere zugleich, dass ein anderer Leser meine Überlegungen in Frage stellt. Jeder Leser gibt einem Buch oder einem Satz seine Augen. Und so entsteht ein neuer Gedanke. Wer einen Roman liest, findet ihn häufig deshalb spannend, weil er sich mit einer Figur identifizieren kann. Es kann sogar eine Nebenfigur sein, dem der Schriftsteller keine tragende Rolle zugedacht hat. Für diesen Leser wird sie zur Hauptfigur. Sie macht das Buch reizend. Er möchte mehr wissen über sie, als der Autor preisgibt. Er gibt der Figur seine Augen.

Diese Überlegungen bestätigen die Rezensionen. Sie urteilen von Zeitung zu Zeitung das gleiche Buch unterschiedlich. Es werden Bücher gelobt, die, liest man sie selber, enttäuschen. Was hat der Kritiker bloss gelesen? seufze ich, wenn mir ein empfohlenes Buch nicht gefällt. Der Rezensent hat ihm seine eigenen Augen gegeben, aber eben nicht die des Buches. So täuscht mir der Rezensent etwas vor, das ich im Buch nicht finde. Darum kann Goethe sagen: „Schlag ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent.“

Ich lese auf meinen Ausflügen, spreche aber auch gern mit Menschen, die ich im Zug oder auf dem Schiff treffe. Bereichernder aber ist es oft, ins Buch zu schauen. Dort bin ich mit Sicherheit in bester Gesellschaft, bin dabei, wenn gerade ein Fest gefeiert wird oder eine Beziehungskrise ausbricht. In inniger Verstrickung mit dem Werk tritt mir die Welt des Autors entgegen. Wie in einem offenen Fenster betrachte ich das Schicksal von Menschen. Und weil der Autor dieses Schicksal vertieft und glänzend erzählt, bekomme ich lesend einen Blick dafür, „was die Welt im Innersten zusammenhält.“ (Aus Goethes Faust).

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