Polizisten vergewaltigten eine Frau, das Opfer wird zur Schuldigen. Die Tunesierin Kaouther Ben Hania entlarvt mit dem Trauerspiel «La belle et la meute» den Machismo im Land.
Die 1977 in Zentraltunesien geborene Kaouther Ben Hania zählt zu den Künstlerinnen, die keine Hemmung haben, das Frau-Sein im arabischen Raum zu thematisieren. Ihrem Spielfilm liegt ein realer Vorfall aus dem Jahre 2012 zugrunde: Eine junge Frau wurde in Tunis von Polizisten vergewaltigt und versuchte erfolglos, das Delikt bestätigen zu lassen. Der Fall schlug in den lokalen Medien hohe Wellen und wurde 2013 in Frankreich mit dem Buch «Coupable d’avoir été violée» weiter verbreitet. Dieses «Fait divers» hat die Filmregisseurin nicht nacherzählt, sondern lediglich als Ausgang verwendet, streckenweise verändert und zu einem persönlichen starken Film verarbeitet. Bei ihr geht die 21-jährige Mariam mit ihrer Freundin an ein Universitätsfest in Tunis, wo ihr Youssef auffällt und gefällt. Der akustisch nicht verständliche Dialog ihrer gegenseitigen Annäherung ist ein wahres Bijoux zwischenmenschlicher Zärtlichkeit. Sie verlassen den Saal, um etwas Luft zu schnappen. Da geschieht es, was nicht gezeigt, nur erzählt wird: Aus einem Polizeiauto steigen Polizisten, zeigen ihre Dienstmarken, drängen den jungen Mann weg und zwingen die Frau in ihr Auto, wo sie sie zweimal vergewaltigen.
Mariam, zwei Polizisten, Youssef, eine Polizistin (v. l.)
Schuldig, vergewaltigt worden zu sein
Was nach der Disco und nach dem Vergewaltigung abläuft, ist ein Drama in acht Akten, brutal, zynisch und unmenschlich: Mariam und Youssef müssen, um eventuell zum Recht zu kommen, das Geschehene in einem Spital oder auf einem Polizeiposten protokollieren lassen. Doch überall stossen sie auf Indifferenz, Unverständnis, Angst, Feindseligkeit oder Aggression, werdenin unauflösliche bürokratische Schlaufen verwickelt, von der Kamera schonungslos und minutiös dokumentiert. Mariams Tasche mit ihrem Ausweis blieb im Auto der Täter liegen. Die Empfangsdame der nächstgelegenen Privatklinik macht keinen Wank ohne diese ID. Im öffentlichen Spital ist eine Untersuchung ohne Polizeirapport nicht möglich. Eine kritische Journalistin lässt die Hände vom Fall. Und für die Polizei ist eine Beschuldigung von Polizisten von vornherein ein Affront.
Mit «La belle et la meute» greift Kaouther Ben Hania zum zweiten Mal die kriminelle Seite des arabischen Machismo auf. Mit cleverem und kühnem Kunstgriff und ohne moralischen Zeigefinger rollte sie bereits 2014 in der Satire «Le challat de Tunis» (auf DVD erschienen, im Online-Kino von trigon-film zu sehen) die Ereignisse um einen Motorradfahrer in Tunis auf, der es mit einem Rasiermesser auf die Hintern knapp bekleideter Frauen abgesehen hat und in Männerkreisen zum Volksheld wurde. Die fiktive Figur dieses «Rächers der Züchtigkeit» ist eine geniale Metapher für die Schizophrenie arabischer Männer, die sich als Tugendwächter aufspielen, de facto aber mit der Anziehungskraft des andern Geschlechts so wenig umgehen können, dass sie es verteufeln müssen. Die Regisseurin führte die Geschichte des «Schlitzers von Tunis» ad absurdum. Es ist leicht erkennbar, dass hier kein realer, sondern ein frei erfundener, überspitzter Fall im Gewand eines satirischen Dokumentarfilms daherkommt. – Ein Seitenblick in ein anderes Land, in dem ein Gottesstaat ähnlich absurde Situationen kreiert, zeigt der aktuelle Film «Tehran Taboo» von Ali Soozanden.
Hoffnungslos von Institution zu Institution fliehend
Vom Ereignis zum Spielfilm
Mit «La belle et la meute» geht Kaouther Ben Hania umgekehrt vor. Ein konkretes Ereignis war zwar die Vorlage, doch die Filmemacherin erfindet in Analogie zum konkreten Ereignis ihre eigene Geschichte, was sie befreit, den Film in ihrem Sinn, nach ihren dramaturgischen Regeln, mit ihren persönlichen Aussagen zu realisieren. Ihre Protagonistin etwa ist jünger und naiver, hat einen älteren und erfahrenen Freund als die Beteiligten beim realen Fall. In acht Kapiteln schildert die Regisseurin die Unmöglichkeit und Ausweglosigkeit nach der Vergewaltigung in einer Parabel kafkaesker Dimension. Nicht nur die Story führt in die Enge, die Kamera unterstützt sie, ja gibt ihr erst die Gestalt. Dafür verwendet die Regisseurin Plansequenzen, das sind Einstellungen, die den Inhalt einer ganzen Sequenz ohne Schnitt schildern. Sie fesseln Mariam und Youssef sozusagen und sperren sie in eine Szene. «Dieser Film braucht das, denn die Plansequenz enthält die Kraft, uns in die echte Zeit eintauchen zu lassen. Auch unser Leben ist eine einzige Plansequenz von der Geburt bis zum Tod. Das Leben verläuft linear und in einer fortlaufenden Sequenz, man kann dem nicht entkommen. Ich möchte die Zuschauenden in dieselbe geistige Verfassung versetzen; die Qual, die Mariam durchlebt, wird in Plansequenzen gezeigt», sagt Ben Hania.
«La belle et la meute» ist also eher ein Film über die Vergewaltigung durch den Staat als über die Vergewaltigung durch einen Menschen, was hier jedoch ins eins zusammenfällt, da Polizisten sowohl Individuum als auch Teile des Staatsapparates sind. Moderne Gesellschaften basieren bekanntlich auf der Idee, dass Menschen im Auftrag des Staates Macht ausüben, Individuen beschützen, aber auch bestrafen sollen. Die Ausweglosigkeit Mariams kulminiert auf der Polizeistation, wo es den Beamten gelingt, Youssef zu Ausfälligkeiten zu provozieren, um ihn umgehend verhaften zu können, und Mariam bis zur Verzweiflung abzukanzeln als Flittchen, als Familienschande, als Kriminelle, als Gefahr für den Staat. In ihrer Isolation wird sie von vermeintlichen Aufmunterungen und anschliessenden Desillusionierungen traktiert, während sie die Räume klaustrophobisch erlebt, deren Gänge stets neu in Sackgassen führen. Der Film offenbart, wie der Machtapparat nicht die Bürgerinnen und Bürger, sondern die Täter schützt.
Am Ende gönnt Kaouther Ben Hania ihrer Antiheldin dieser Horrornacht zwar einen kleinen Hoffnungsschimmer in der Person des einzigen integren, wenn auch etwas schwachen Beamten, der ihr Gehör zu verschaffen verspricht. Doch wenn wir mit Mariam endlich aus dem Polizeilabyrinth in einen arabischen Frühlingsmorgen mit sanftem Vogelgezwitscher geflohen sind, kehren auf ihrem Gesicht und in unserem Geist nach einem Moment der Erleichterung gleich wieder stumme Fragen zurück. Für sie mag sich eine kleine Hoffnung auf Genugtuung abzeichnen. Doch wie ist die Situation sonst in Tunesien, im Maghreb und anderswo? Überheblichkeit als Westlern steht uns jedoch nicht zu, was im Nachgang zu den Weinstein-Enthüllungen fast tägliche belegt wird. Nur diskreter, verschleierter und geheimer läuft es bei uns ab. Und somit ist die Aussage der Filmemacherin weiter aktuell: «Ich wollte nicht einfach eine Geschichte aus den News treu wiedergeben, sondern die Fiktion verwenden, um vom Mut zahlreicher Frauen zu erzählen, die dafür kämpfen, dass ihre Rechte respektiert werden. Ich wollte über all die Frauen reden, deren Stimmen nicht gehört werden.»
Titelbild: Mariam mit Freundin auf einer Party